Berlin

Sommer in der City: Keine S-Bahn, keine Straßenbahn

Mit dem Fahrplanwechsel am 16. Juni 2002 erfolgte nicht nur die monatelange Sperrung der Nord-Süd-S-Bahn-Strecke und die Unterbrechung des Stadtbahn-Verkehrs zwischen Friedrichstraße und Zoologischer Garten. Gleichzeitig wurde - neben der ohnehin schon seit Wochen bestehenden Einstellung des Straßenbahnverkehrs in der Friedrich- und Chausseestraße - zu allem Überfluss auch noch die Straßenbahnstrecke über den Alexanderplatz für zwei Wochen unterbrochen.

Als im Sommer 2001 die S1 und U1 im Bereich Zehlendorf zu gleicher Zeit ihren Betrieb einstellen sollten, fragte der Fahrgastverband IGEB, warum das gleichzeitig erfolgen müsse. Verkehrssenator Peter Strieder rief zur Koordination der Bauarbeiten die Abstimmungsrunden zwischen S-Bahn und BVG zusammen, um solche Fehlplanungen zukünftig zu vermeiden. An S1 und U 1 baute man zeitlich voneinander getrennt.

Eigentlich dachte man nun, dass, wenn bei solchen Abstimmungen die BVG mit am Tisch säße, die gesamte BVG vertreten wäre - weit gefehlt. Die interne Unternehmenskommunikation war wohl nicht in der Lage, alle Unternehmensbereiche zu unterrichten. Während die Zeitungen schon seit Monaten über die bevorstehende Sperrung des Nord-Süd-S-Bahn-Tunnels und die. durch die von Herrn Mehdorn verfügte Verkürzung des Lehrter Bahnhofsdaches verursachte zeitgleiche Sperrung der Stadtbahn berichteten, kamen diese Meldungen bei den BVG-Straßenbahnern nicht an.

Gleisarbeiten am Alex
Keine (Heizungs-)Kosten wurden gescheut, damit jahrelang verschleppte Straßenbahn-Eröffnung am Alex trotz starkem Frost doch noch termingerecht im Dezember 1998 stattfinden konnte. Die Baufirmen lehnten schon damals jede Gewährleistung ab, und so dauerte es gerade mal drei Jahre, bis die Gleise auf einigen Abschnitten erneuert werden mussten. Foto: IGEB-Archiv

Sicherlich kam der „Geniestreich" des Herrn Mehdorn für alle in der Stadt überraschend, aus reiner Geltungssucht zeitgleich zur Nord-Süd-S-Bahn auch noch die Stadtbahn zwischen Friedrichstraße und Zoologischer Garten gesperrt wurde und das auch noch vor den Sommerferien. Als das Ausmaß dieser Unterbrechungen im S-Bahn-Verkehr bekannt wurde, hätte die BVG allerdings aus Rücksicht auf ihre Fahrgäste alle vermeidbaren Baumaßnahmen in der City stornieren mussen. Stattdessen hielt die BVG stur an ihren Planungen fest, obwohl ein Verschieben der Bauarbeiten noch problemlos möglich gewesen wäre, schrieb man doch die Bauarbeiten am Alex erst Ende April öffentlich aus.

Und das ist das Argerliche - wiederum hat niemand in Berlin den ÖPNV als hochkomplexes, vernetztes System begriffen, Denn es gibt nicht den Straßenbahn- und den S-Bahn-, sondern nur den ÖPNV-Fahrgast. Und so wäre zum Beispiel die Sperrung des Nord-Süd-Tunnels für den einen oder anderen Fahrgast eben erträglicher gewesen, wenn ab Nordbahnhof zum Beispiel die Straßenbahn-Linie 50 als Ersatz zur Verfügung gestanden hätte. Und wer als „normaler Fahrgast" der Nord-Süd-S-Bahn oder auch der Stadtbahn die Wirren dieser Sperrungen umschifft hatte und dann anschließend noch am Alex nach langem Fußweg den SEV für die eingestellten Straßenbahnen nutzen musste, um dann wenige Haltestellen später gerade die Schlusslichter der abfahrenden Straßenbahn zu erblicken, der wird wohl bis auf weiteres nur noch zwangsweise öffentliche Verkehrsmittel benutzen.

Die Baumaßnahmen an der erst Ende 1998 eingeweihten Straßenbahnneubaustrecke über den Alexanderplatz verdienen ohnehin eine genauere Betrachtung. Lange Zeit hatten der damalige Verkehrssenator Herwig Haase und sein Staatssekretär Ingo Schmitt erfolgreich den Straßenbahnausbau boykottiert. Doch nach erfolgreichem jahrelangen Verschleppen war der öffentliche Druck zum Bau der Straßenbahnstrecke zum Alex so groß, dass der Eröffnungstermin Ende 1998 zwingend eingehalten werden musste, damit die beiden Verkehrsexperten sich nicht restlos blamieren und möglicherweise die eigene Position riskieren. Aber im Herbst 1998 gab es einen frühen Wintereinbruch. Dabei wurden die Außentemperaturen unterschritten, bis zu denen man bestimmte Betonarbeiten durchführen kann. Also wurde die Baustelle „eingehaust", d.h. eine Art Zelt wurde über den Baustellen errichtet- koste es, was es wolle. Trotzdem lehnten die Baufirmen natürlich eine Gewährleistung für diesen Pfusch ab. Die Folge ist, dass die Gleise an den besonders belasteten Stellen nach nur dreieinhalb Jahren ausgewechselt werden mussten. Man muss befürchten, dass die BVG (und damit die Fahrgäste) die Kosten für diese allein politisch zu verantwortenden Fehler übernehmen müssen.

Aber wer nun glaubt, dass, wie in anderen Städten üblich, eine vierzehntägige Unterbrechung des Straßenbahnverkehrs an einem der neuralgischsten Punkte im Netz sorgfältig geplant wird und alle Beteiligten Sorge tragen, dass eine solche Sperrung in den nächsten 20 Jahren nicht nochmal nötig wird, der sieht sich in Berlin natürlich getäuscht.

Gleisarbeiten am Hackeschen Markt
Foto: Hans Grasse
Blick über die Weiche am Hackeschen Markt
Wie am Alexanderplatz mussten auch am Hackeschen Markt die teilweise sehr engen Gleisradien erneuert werden. Sie waren ebenfalls im Winter gebaut worden. Foto: Hans Grasse

Denn schließlich gibt es den erklärten politischen Willen, auch die Straßenbahn-Linie 1 Richtung Alexanderplatz zu verlängern und zwar bis zum Jahr 2003, Die BVG ist an diesen Planungen beteiligt. Zwar liegt zur Zeit noch kein gültiger Planfeststellungsbeschluss für die Neubaustrecke Prenzlauer Allee - Karl-Liebknecht-Straße - Dircksenstraße - Rathausstraße vor, aber wie die Gleise liegen sollen, wissen alle Beteiligten und in der Karl-Liebknecht-Straße wird zumindest an der Fahrbahnverlegung auch schon fleißig gearbeitet. Für die neue Alexstrecke muss unter anderem unter der Stadtbahn-Brücke, wo auch die bestehende Straßenbahnstrecke hindurchführt, eine Gleisverschlingung eingebaut werden, damit die Strecken sich kreuzen können. Es wäre nun ein Leichtes gewesen, diesen Gleiseinbau im Rahmen der ohnehin erfolgten vierzehntägigen Sperrung zu erledigen oder mit der Gleiserneuerung noch einige Monate zu warten, bis man alle Bauarbeiten in einem Rutsch hätte durchführen können.

Aber über keine der beiden Alternativen verschwendete man einen Gedanken und so steht in absehbarer Zeit eine erneute Streckensperrung am Alexanderplatz an. Die einzige spannende Frage für die täglich ca, 60.000 betroffenen Fahrgäste ist, ob es wieder zwei Wochen dauern wird, bis die neuen Gleise auf ca. 50 Meter Länge eingebaut sind. Eine andere Frage dagegen kann schon jetzt beantwortet werden: Die Mehrkosten für den dann erforderlichen Schienenersatzverkehr werden die Fahrgäste mit der nächsten Tariferhöhung mitfinanzieren müssen.

IGEB, Abteilung Stadtverkehr

aus SIGNAL 4/2002 (September/Oktober 2002), Seite 7-8

 

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