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Kunde A. ist froh, seine Frühschicht hinter sich
zu haben und fährt am 17. Juli nach Hause. Er
hat mehrere Möglichkeiten, aber er entscheidet
sich bewusst nicht für die S-Bahn nach
Spindlersfeld, sondern für die große gelbe Firma,
mit deren Straßenbahn er ab S-Bahnhof
Adlershof fahren möchte. Wie die anderen
Umsteiger zur Straßenbahn quält er sich nicht
über den viel zu engen Gehsteig unter der Eisenbahnbrücke
Rudower Chaussee durch die
Abgaswolken des ständigen Autostaus. Er
nimmt den separaten Ausgang des Bahnhofs
zur Südseite, den nach der Verkürzung des
260er Busses auch dessen Kunden schätzen
gelernt haben. Dort verlässt er um 14.57 Uhr
den Bahnhof.
1. Akt: Nichts geht mehr
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Ein Mobiltelefon und das Wählen der Telefonnummer 19449 führt nicht immer zum gewünschten Ergebnis. Fotomontage: Florian Müller |
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Vom Ausgang des Fußgängertunnels bietet
sich Kunde A. ein vertrautes Bild der typischen
Berliner Verkehrspolitik - eine Straßenbahn
steht in der Kurve, die unter die Bahnbrücke
führt und wartet. Er vermutet, dass es wie
immer der Stau ist, der die Bahn dort aufhält.
Aber nein, andere Kunden kommen ihm entgegen
mit dem Hinweis, dass hier nix geht. Und
tatsächlich, die Bahn hat alle Türen geöffnet
und ist leer, und zum großen Erstaunen des
Kunden liegt auch die Straße wie ausgestorben
da, nicht ein einziges Auto zu sehen! Er
hält nach einer Information Ausschau, die irgendwie
amtlich aussieht. Kein Mitarbeiter
des Verkehrsbetriebes zu sehen, kein notdürftig
hingekritzeltes Pappschild an der Haltestelle,
wie er es von der S-Bahn kennt, wenn dort
(auch viel zu oft!) nichts mehr fährt. Dann
kann es ja nicht allzu lange dauern, meint er
und hätte sich fast entschlossen, an der Haltestelle
zu warten, aber zum Glück beschließt
er doch, sich die Sache mal näher anzusehen,
denn das mit der leeren Straße kommt ihm
spanisch vor.
2. Akt: Die Situation
Kunde A. kommt zur Brücke und sieht die Bescherung:
überall liegen gebogene Stücke der
Oberleitung herum, über die ganze Straße
sind rot-weiße Flatterbänder gespannt, die
Polizei ist da und auch schon mehrere (!)
Montagewagen der BVG, die bei der Reparatur
der von einem Lkw weggerissenen Fahrleitung
schon weit gekommen sind. Offensichtlich
dauert das hier schon eine ganze Weile, er
schätzt anhand des Reparaturfortschritts auf
mindestens eine halbe Stunde (schön rotgold
glänzende neue Fahrdrähte hängen schon auf
ganzer Länge des Unglücksabschnitts, müssen
aber noch ordentlich ausgerichtet und festgemacht
werden).
Zur Reparatur des Kreuzungsstücks hat die
Polizei sogar das Adlergestell, den Autobahnvorläufer
im Berliner Südosten, gesperrt -
das will in Berlin schon was heißen. Jetzt wird
dem Kunden A klar, dass er hier nicht so
schnell weiterkommt zumal auch die Buslinie
360 die gesperrte Brückendurchfahrt benutzen
müsste, aber nicht kann. Leichte Unsicherheit
befällt den Kunden, denn nun braucht
er professionellen Rat von den Verkehrsexperten
der BVG, aber nirgends steht ein freundlicher
Mensch in Firmenkleidung, der so was
macht.
3. Akt: Die Information
Da sieht der Kunde auf dem Mittelstreifen des
sechsspurigen Adlergestells einen Pkw mit der
Aufschrift „Betriebsaufsicht Tram". Wohlgemerkt,
lieber Leser, das Adlergestell ist auf der
anderen Seite des Bahnhofs, da, wo die Haltestellen
NICHT sind, unser Kunde hat den
Bahnhof also schon einmal umrundet. Er begibt
sich nun zu dieser Aufsicht und bekommt
auch gleich trotz des gerade herrschenden
Dienststresses freundlich Auskunft:
-
Ja, das dauert noch mindestens eine, wenn
nicht gar anderthalb Stunden.
-
Nein, der Bus fährt hier auch nicht mehr.
-
Nein, einen Ersatzverkehr gibt es wegen
der gesperrten Straße hier auch nicht, der
fährt, wenn überhaupt, dann weiter hinten
in Adlershof.
-
Überhaupt lohnt es sich gar nicht hier auf
irgendein Angebot zu warten, man sehe
doch die verstopften Straßen, der Bus 360
nach Köpenick fährt zwei Haltestellen weiter
Richtung Rudow in der Agastraße die
auch alle Autos nun ersatzweise nehmen
und wenn der Kunde Richtung Köpenick
wolle, dann fahre er am besten mit der
S-Bahn bis Grünau oder Schöneweide und
steige dort um.
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Modernste Technik, satelitengesteuert, rechnerprogrammiert. Aber in der Praxis ist di Technik, auf die man setzt, nicht so verlässlich. Foto: RBL-Gerät und Fahrkartendrucker im Bus, Alexander Frenzel |
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Das war alles korrekt, aber trotzdem nicht
wirklich befriedigend für den Kunden; Er hatte
einen Dienst in den Knochen, einen schweren
Rucksack und keine Lust mehr auf ewiges
Treppensteigen oder Laufen. Wenn schon mindestens
35 Minuten Umweg, dann dabei
durchweg sitzen. Und er hatte im Hinterkopf
sofort die Ahnung, den Bus der Linie 260 am
Bahnhof auf der leeren Rudower Chaussee
wenden gesehen zu haben. Er ging also wieder
zurück zur Südseite, wo sich alle Haltestellen
befinden, und richtig: da kam der nächste
260er, spuckte seine Fahrgäste aus und wendete.
Jetzt, wo kein Auto mehr störte, ging
das richtig gut.
Er war offenbar nicht allein mit dem Gedanken,
dass auch der 360er hier als Abstecher
vorbeifahren könnte, um die Umsteiger
der S-Bahn aufzunehmen und abzusetzen. Etliche
Fahrgäste waren in der Zwischenzeit aus
den nächsten S-Bahnen geströmt und bevölkerten
nun die Haltestellen. Eine Frau wollte
sogar von einem BVG-Mitarbeiter (Bus- oder
Straßenbahn-Fahrer?) erfahren haben, dass in
Kürze der nächste Bus 360 hier Richtung Köpenick
halten werde. Aber alle anderen warteten
in ihr Schicksal ergeben, sie hatten die abgesperrte
Brücke gesehen und dachten sich
wohl, die BVG mit ihren tollen Werbekampagnen
wird sich schon was einfallen lassen.
Kunde A. wußte, das ständig neue Fahrgäste
aus der S-Bahn nachströmen werden, alle
werden den bequemsten Weg durch den extra
Fußgängertunnel nehmen und demzufolge an
der Betriebsaufsicht auf der anderen Bahn
hofsseite nicht vorbeikommen, sondern leere
Haltestellen vorfinden. Mit ihrem Frust allein
gelassen, begannen sich die ersten auch bald
auf die einzigen verfügbaren Mitarbeiter der
BVG zu stürzen und die Armen mit Fragen zu
löchern: die Busfahrer des hier planmäßig ankommenden
260er. Aber die Antworten, die
sie hier aus der rauhen Praxis der Straße erhielten,
munterten sie offenbar auch nicht
auf.
Originalton: „Wissen Sie, wie es auf den
Umleitungsstraßen hinten aussieht? Jeder
360er hat mindestens eine Stunde Verspätung,
so schnell kommt hier gar nix mehr nach
Köpenick!"
4. Akt: Das Telefon
Da entsinnt sich Kunde A. der Nummer, die die
BVG in ihrem U-Bahn-Fernsehen allen Kunden
ans Herz legt, die alles wissen und können
soll: die „magische" 1 94 49.
Erstes Gespräch, ca. 15.25 Uhr, ein patziger
Herr bei der BVG: „Sie wollen den 360er zum
S-Bahnhof? Aber da ist doch gesperrt, hat die
Polizei gesagt!" Auf den Einwand, dass der
260er hier vor den Augen des Kunden hinfährt
und wendet: „Davon weiß ich nichts, da muss
ich erstmal nachfragen." Und es gab auch
nichts, was der Anrufer den anderen Wartenden
als konkretes Ergebnis mitteilen könnte.
Wenn es vom Handy nicht so teuer wäre, hätte
Kunde A. am liebsten jeden Fahrgast an der
Haltestelle einzeln dort anrufen lassen, um
die Dringlichkeit des Problems zu zeigen!
Zweiter Anruf, ca. 15.30 Uhr. Der Kunde
möchte, dass eine für Auskünfte kompetente
Person an den Haltestellen erscheint und die
Fahrgäste auf die hoffentlich vorhandenen
Fahrtalternativen verweist. Er berichtet, dass
auf der anderen Seite des Bahnhofs ja schon
ein solcher Mitarbeiter ist, aber dort keinen
Kundennutzen erbringt. Weiter fragt er, ob der
Bus Linie 360 nicht auch zum S-Bahnhof fahren
kann, wie das der 260er macht. Er verweist
darauf, dass ständig neue Fahrgäste aus
der S-Bahn steigen, so dass eine dauerhafte
gute Information und Verkehrserschließung
angebracht erscheint. Eine freundliche Dame:
„Ich nehme das alles mal so auf, ich kann Ihnen
leider aber jetzt nichts Konkretes sagen."
Auf deutsch: Abwarten und Tee trinken.
Dritter Anruf, ca. 15.35 Uhr. Der Kunde
schildert alles noch einmal und erwartet, dass
bald gehandelt wird, jetzt dauert die Störung
ja schon eine Stunde. Statt einer schnellen
Lösung erhält er folgendes Angebot eines
freundlichen Herrn: „Ich leite das mal an das
Qualitätsmanagement. Sagen sie mir noch
mal Ihren Namen und die Anschrift bitte, damit
wir Ihnen in den nächsten Wochen eine
Antwort schicken können." Auf den Einwand,
dass der Kunde lieber eine schnelle Lösung
hätte, ist der Herr offenbar nicht vorbereitet:
„Wir hier können der Leitstelle nicht vorschreiben,
was zu tun ist; nein, die Nummer
der Leitstelle können wir Ihnen auch nicht geben."
Der Kunde gibt auf und seinen Namen und
Anschrift an; er ist gespannt, welche Textbausteine
ihm demnächst geschickt werden - mit
freundlichen Grüßen.
Er begibt sich nochmal auf die andere Bahnhofsseite,
wo mittlerweile ein Ersatzverkehr
für die Straßenbahn bis vor den Bahnhof geführt
wurde, an die Nachtbus-Haltestelle, die
sonst am Tage brach liegt, und wo ihm natürlich
der Bus vor der Nase weg fährt. Er hat
jetzt selbst schon mehr als eine dreiviertel
Stunde hier zugebracht und beschließt, nun
doch den Umweg über Grünau zu fahren, um
wenigstens nach Hause zu kommen. Er nimmt
16.02 Uhr die S-Bahn und braucht von Grünau
zum Köllnischen Platz ab 16.14 Uhr nochmal
35 Minuten, wo die Straßenbahn sonst nur
zehn Minuten unterwegs ist-der Umleitungsstau
wegen dieser Sperrung ist enorm!
5. Akt: Fortschritt durch Technik
Der Kunde fragt sich, ob die BVG gerade an
diesem Tag ihr vielgepriesenes rechnergestütztes
Betriebsleitsystem (RBL) abgeschaltet
hat. Sollte das nicht helfen, das Umsteigen
zwischen den Verkehrsmitteln zu verbessern,
bei Störungen schnell Informationen an die
Fahrgäste zu geben und sofort Alternativen zu
erarbeiten? Wie kann es sein, dass innerhalb
eines Betriebsteils eine Linie am Bahnhof
wendet, aber die zweite diese wichtigste
Zwischenhaltestelle auslässt mit der „Begründung",
dort könne wegen Sperrung nicht
gefahren werden?
Wie kann es passieren, dass die BVG selbst
die Dauer der Störung auf über eine Stunde
schätzt, aber niemanden an die Haltestelle
beordert, um die Fahrgäste zu informieren?
Nachwort
Es ging Kunde A. an diesem Tag nicht darum,
schnell wegzukommen, die empfohlene Umwegfahrt
hätte er schon früher antreten können.
Aber er versetzte sich bewusst in die
Lage z.B. eines alten, vielleicht sogar gehbehinderten
Menschen oder eines Kindes, die
niemanden finden, der ihnen hilft und die auch
kein Handy haben, oder eines ortsunkundigen
Menschen, der vielleicht noch einen schweren
Koffer zu tragen hat, oder eines Autofahrers
dem sämtliche Rundfunkstationen die Baustellen-
und Stau-Informationen hinterherschmeißen,
um ihn zu gewinnen. Was sollen
diese Leute vom Kundendienst der BVG halten?
Die Mehrzahl wird sich nicht beschweren,
sondern ein weiteres Mosaiksteinchen in ihr
Traumbild vom eigenen Auto einfügen.
IGEB
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