Berlin

Noch ein Provisorium an der Warschauer Brücke

Über geplante Baumaßnahmen im Berliner Verkehr wird in der Regel jahrelang ausgiebig geredet, bevor etwas passiert. Insofern überraschte es, als die Bahn AG im November 2004 verkündete, der Zugang zum S-Bahnhof Warschauer Straße - immerhin eine drei Bahnsteige umfassende Station in der Innenstadt und wichtiger Umsteigepunkt zur U-Bahn - müsse aus statischen Gründen, sprich Baufälligkeit offenbar am Rande der akuten Einsturzgefahr, ganz schnell abgerissen werden. Was die Sache dann doch wieder nicht so ungewöhnlich machte, ging es doch eben nicht darum, etwas für die nächsten Jahrzehnte zu errichten, sondern darum, etwas verschwinden zu lassen. Und in solchen Fällen hat sich handstreichartiges Vorgehen schon früher als kluge Strategie erwiesen: Rasch abreißen, ehe noch jemand auf die Idee kommt, nach dem Denkmalschutz zu fragen.

Immerhin handelte es sich bei dem Empfangsgebäude samt Treppenhäusern um ein Frühwerk von Berlins bedeutendstem Bahnarchitekten Richard Brademann, errichtet - wenn wir dem Standardwerk „Berlin und seine Bauten" glauben dürfen - 1921 bis 1924. Zwar erhielt die Anlage beim Wiederaufbau Anfang der fünfziger Jahre eine neue Schalterhalle samt von oben bis unten verglaster Front. Doch auch solche Zeugnisse der Nachkriegsmoderne sind bei der Berliner S-Bahn mittlerweile rar geworden - nach den Abrissen an den Stationen Halensee, Gesundbrunnen, Schönhauser Allee, Landsberger Allee, Hennigsdorf oder dem fast vollständigen Umbau des Bahnhofs Alexanderplatz und des Nord-Süd-Bahnsteigs Friedrichstraße.

Abbrucharbeiten
In nur wenigen Wochen wurde das baufällige Empfangsgebäude des S-Bahnhofs Warschauer Straße Anfang 2005 beseitigt. Könnte es sein, daß die DB froh war, somit einer Diskussion über die durchaus erhaltenswürdige Architektur des nun ehemaligen Bahnhofsgebäudes entkommen zu sein? Foto: Marc Heller

Weil es jetzt so schnell zu gehen hatte, entstand am S-Bahnhof Warschauer Straße als Ersatz eine stählerne Behelfsbrücke. Den Umsteigern von und zur Hochbahn zwingt sie einen erheblichen Umweg auf, aber schon in den Jahren 2007 bis 2010 soll dieses Provisorium wieder weichen - nein, keinem neuen Empfangsgebäude, derlei mag die Bahn sich, ihren Kunden und dem Stadtbild ja selbst an hervorragendsten Stellen nicht mehr gönnen. Doch zumindest „eine ansprechende Architektur aus Glas und Stahl" will man an der Warschauer Straße laut Tagesspiegel vom 25. November 2004 realisieren.

Diese Botschaft hören wir wohl, allein - wir waren schon mal in Hamburg. Dort wurde in Sachen Wirtschaftlichkeit der Bahn (oder was die Verantwortlichen dafür halten) in den letzten Jahrzehnten wahre Pionierarbeit geleistet, insbesondere bezüglich der Stationen. Und so fiel nicht nur der alte Kopf bahnhof Altona der Spitzhacke und den Schneidbrennern zum Opfer, man „ersetzte" auch die großen Perronhallen der Stationen Sternschanze und Holstenstraße durch schnell schäbig gewordene Norm-Bahnsteigdächer, stieß repräsentative Empfangsgebäude ab und beseitigte Zugänge.

In Rübenkamp konnte das schmucke Empfangsgebäude nur gerettet werden, weil sich Lehrer und Studenten der benachbarten Fachhochschule für Bau- und Vermessungswesen für den Erhalt engagierten. Derweil die Bahn nichts damit anzufangen wußte, wurde es erfolgreich umfunktioniert zu einem Restaurant und Veranstaltungsort - gediegen tafelnd, hat man vom Stummel der alten Bahnsteigbrücke aus einen vorzüglichen Blick auf den Zugverkehr und auf die Fahrgäste, die über jenen armseligen, ungedeckten Holzsteg laufen müssen, welcher heute zum Perron führt und unvermittelt auf den Bahnhofsvorplatz mündet.

Bahnhofsgebäude
Hamburg, S-Bahnhof Rübenkamp. Seit Jahren erreichen die Fahrgäste den Bahnsteig nur über einen ungedeckten Holzsteg. Auch die Berliner Fahrgäste am S-Bahnhof Warschauer Straße werden nun für viele Jahre ohne Witterungsschutz zum Bahnsteig laufen müssen. Foto: Jan Gympel, 1999

Dieser Zugang zum S-Bahnhof Rübenkamp sieht so aus, als wäre der Krieg gerade vorbei. Allerdings hätte damals die alte Behördenbahn wohl weder sich noch den „Reisenden" eine solche Dauerlösung zugemutet. Die dynamische, zukunftsorientierte, zumindest auf dem Papier privatisierte Bahn von heute sieht das offenkundig anders, sogar an einer der wichtigsten Hamburger S-Bahnstrecken, über die schon bald auch die Züge zwischen Flughafen und Hauptbahnhof verkehren sollen.

Insofern nehmen wir gern Wetten an, wie viele Jahre die Behelfsbrücke an der Warschauer Straße stehen bleiben und ob sie verschwinden wird, bevor sie ihrerseits baufällig und einsturzgefährdet geworden ist. Zumal der angekündigte Neubau, für den das Genehmigungsverfahren noch nicht eingeleitet worden ist, „im Rahmen der Arbeiten am Bahnhof Ostkreuz" erfolgen soll, deren Beginn bekanntlich jahraus, jahrein verschoben wird. Zu diesem Neubau gehört übrigens auch - geplante Fertigstellung: spätestens 2015 - eine Verschiebung des Hochbahnhofs Warschauer Straße über den Fern- und S-Bahngraben. Enden die U-Bahnzüge doch bislang in einem Provisorium. Und zwar seit 1902.

Jan Gympel

aus SIGNAL 1/2005 (Februar/März 2005), Seite 20

 

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