Nahverkehr

Noch jemand ohne Fahrschein?

Ein neues Buch zur Straßenbahn

Frei nach dem Motto "Was wären Artefakte ohne die Menschen, die damit zu tun haben?" präsentierte der Jaron-Verlag kürzlich ein neues Buch zur Berliner Straßenbahngeschichte. Auf 112 Seiten bietet es in eher literarischer Form Texte von Horst Bosetzky, Berichte des Straßenbahnfahrers Klaus Reineck sowie 70 s/w-Fotographien, einen Straßenbahn-Linienplan von 195* und neun Straßenbahn-Linienbilder der West-Berliner Straßenbahn aus den 60er Jahren, ausgewählt von Alfred Gottwaldt.

Der Einleitungstext "Einsteigen bitte und durchtreten" macht deutlich, daß dieses Buch mehr sein will als nur Pflichtlektüre für wißbegierige Verkehrsfreunde. Es will Literatur sein, nämlich "Erinnerndes Erzählen", denn das fehlt in den bisher vorliegenden Büchern über die Berliner Straßenbahn, von denen es "viele und viele sehr gute" gibt, bei denen aber eines viel zu kurz kommt: die Menschen. Dies ist ein Anspruch, der beim nicht geringen Preis von fast 40 DM Gefahr läuft, bei all jenen, die in solchen Büchern vor allem Informationen und weniger Emotionen suchen, ins Leere zu laufen.

Der Hauptautor Horst Bosetzky - auch als erfolgreicher Krimiautor -ky bekannt - knüpft mit seinen witzigen Erzählungen den roten Faden, der sich beim Lesen dann vielmehr als Breitband-Elixier entpuppt: Von seinen Kindheitserinnerungen aus den 40er Jahren bis hin zu seinen Eindrücken von Fahrten mit Niederflurbahnen der 90er Jahre eröffnet sich immerhin ein halbes Jahrhundert Berliner Straßenbahngeschichte. Aufgehängt an einer ganzen Reihe von Straßenbahnfahrten (in Ost und West) gelingt es Bosetzky tatsächlich, beim Rezensenten längst in Vergessenheit geratene Bilder und Erlebnisse neu zu öffnen. Demjenigen, der Gelegenheit hatte, den Umgang mit der Straßenbahn im Westteil Berlins zu erleben, rufen die Ausführungen Bosetzkys ganze Filme im Kopf wach, wobei auch die Bildauswahl von Alfred Gottwaldt hilft. Die Bilder bieten über die Textergänzung hinaus auch dokumentarische Einblicke, welche durch die Bildunterschriften allerdings noch besser und präziser hätten ergänzt werden können. TF40-Wagen wurden im Zweiten Weltkrieg eben nicht von Warschau hierher nach Berlin geholt, sondern dort weggenommen.

Rietzenschieber
Ein Ritzenschieber. Zur Reinigung der Rillenschienen hatte der Arbeiter sein besonderes Gerät in den Gleisen entlangzudrücken. (BVG-Foto) Foto und Text aus: „Noch jemand ohne Fahrschein?“

Geglückt sein dürfte dem Autorenteam und dem Verlag der Versuch, den "Mann an der Kurbel" buch(stäb-)lich in die Mitte zu nehmen. Was Klaus Reineck beiträgt, ist vielleicht das i-Tüpfelchen zu diesem Buch. Hier berichtet eben mal einen Verkehrsfreund, sondern jemand, der mit Leib und Seele dabei war - 4und mit diesem Buch wieder dabei ist. Zwar beginnt Reinecks Teil mit scheinbaren Pflichtthemen wie "Stadtring-Erinnerungen" oder Crash-Berichten ("Es hat gescheppert"). Aber schnell löst er sich von solchen Bürden und berichtet noch viel hautnäher davon, wie es gewesen ist: mit dem morgendlichen Dienstbeginn, mit der Betriebsorganisation, mit Schleppfahrten oder auch mit der letzten Runde zu nächtlicher Stunde. Reinecks Ausführungen zu seinen Linien und zu seinen Wagen krönen seinen Beitrag, weil sie recht spezielle Informationen in recht knapper Form auch dem allgemein interessierten Leser verständlich machen.

Elegant vollzieht dann Horst Bosetzky den Übergang zu seinen Erinnerungen. Er begleitet den Niedergang der Berliner Straßenbahn im Westen mit weiteren Linienfahrten, was nie aufdringlich oder dröge wirkt. Vielmehr regt er stets neu zum Nachdenken an, weil er genau schildert, wie eine Vielzahl von für ihn wichtigen Verbindungen in den 60er Jahren "abhanden" kam. Seine "kleinen Fluchten" in Sachen Straßenbahn führen ihn schließlich auch zu Ost-Berlins Rekowagen, und Bosetzky knüpft dabei an Jan Gympels SIGNAL-Aufsatz über diese "letzten Sendboten des bürgerlichen Zeitalters" an.

Dies freilich ist es nicht, was uns zu solch prompter Rezension bewog (auch nicht Bosetzkys Verweise auf Berichte in der Zeitschrift SIGNAL oder in den Berliner Verkehrsblättern). Es sind tatsächlich die Bilder im Kopf, die dieses Buch provoziert. Sie sollten es ruhig ausprobieren, zumal dann, wenn Sie die Berliner Straßenbahn noch von früher her kennen und Ihre eigenen Erinnerungen neu beleben wollen!

Noch jemand ohne Fahrschein? Straßenbahn-Erinnerungen von Horst Bosetzky, Alfred Gottwaldt und einem Mann an der Kurbel. 112 Seiten, 80 s/w-Abbildungen, Festeinband, Format 27x23. Jaron Verlag, Berlin 1997. ISBN 3-932202-16-3. DM 39,80

Dieter Kaddoura

aus SIGNAL 1/1997 (Januar 1997), Seite 12-13

 

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