Die Bahnlinie Berlin - Hamburg wurde mit Milliardenaufwand modernisiert.
Die überwiegend aus den Anfangsjahren stammenden charakteristischen
Empfangsgebäude verloren jedoch ihre Funktion. Was soll aus den
eineinhalb Jahrhunderte alten Bauwerken nun werden? Die Bahn empfindet
sie vor allem als Last und handelt entsprechend lustlos.
Für aufmerksame Bahnreisende begegnet auf der Fahrt von Berlin nach Hamburg
einer Vielzahl von historischen Empfangsgebäuden, die sich deutlich vom
vorherrschenden regionalen Baustil abheben und durch ihre einheitliche
Architektur ein unverwechselbares Erkennungsmerkmal der Eisenbahnstrecke
zwischen Berlin und Hamburg sind.
Im Jahre 1846 wurde die direkte Eisenbahnverbindung Berlin - Hamburg eröffnet.
Der Streckenbau unter Baurat Friedrich Neuhaus erfolgte mit einfachen Mitteln
und dauerte nur zwei Jahre. Aber die mit Inbetriebnahme der Strecke
fertiggestellten Empfangsgebäude beeindrucken bis heute aufgrund ihrer
Schönheit und Größe. Denn hier galt das Motto vieler Eisenbahngesellschaften
der damaligen Zeit: "Überall sparsam, aber nirgends ärmlich".
|
Alt und neu prallen aufeinander. Am Bahnhof in Glöwen wird deutlich, daß der Bahnhof als Gesamtensemble betrachtet werden muß. Während am alten Empfangsgebäude der Putz abblättert, wirkt der neue Tunnelzugang wie aus einem Baumarkt-Katalog. Foto: Frank Böhnke |
|
In schlichtem Klassizismus und hell verputzt stehen die Gebäude in einem
deutlichen Gegensatz zum regionalen Ziegelstil. Sie heben sich außerdem
vom gewöhnlichen Baustil vieler Bahnhofsbauten durch die flachen oder nur
leicht geneigten Dächer ab. "Rechteckige Grundrisse, zurückhaltende
Gliederung der Fassaden, symmetrischer Aufzug, verputzte Ziegelbauweise (...)
lassen ihn [Friedrich Neuhaus] als einen aufmerksamen Schüler oder
Zeitgenossen von Schinkel, Persius, Stüler und Strack erscheinen."
Friedrich Neuhaus war zum technischen Direktor der Berlin-Hamburger Bahn
bestellt worden. Er hatte die führenden Eisenbahnländer England und Belgien
besucht und bereits beim Bau der Berlin-Stettiner Eisenbahn zwischen 1840
und 1843 Erfahrung gesammelt. Der Qualität seiner Bauten auf der
Berlin-Hamburger Bahn ist es offenbar zu verdanken, daß diese nicht später
durch Neubauten ersetzt, sondern durch Anbauten im selben Stil ergänzt wurden.
Deutschlandweit selten ist, daß an einer Eisenbahnstrecke noch so viele
Bahnhofsbauten aus dem Eröffnungsjahr der Strecke zu finden sind.
Die Bahnverbindung Berlin - Hamburg wird bis heute durch diese Gebäude
geprägt.
Identitätsstiftende Gebäude ohne Zukunft?
Der besonderen Bedeutung dieser Gebäude waren sich die Denkmalschutzbehörden
recht früh bewußt. Bereits 1980 wurde der Bahnhof Wittenberge unter
Denkmalschutz gestellt. Mittlerweile stehen im Land Brandenburg auch die
Gebäude von Finkenkrug, Paulinenaue, Zemitz, Glöwen, Bad Wilsnack und
Neustadt (Dosse) unter Denkmalschutz. Folgen sollen die Bahnhöfe von
Friesack und Karstädt.
In der Vergangenheit wurden einige Bahnhöfe bereits ansprechend saniert. Der
Ausbau der Eisenbahnverbindung Berlin - Hamburg ist Teil der "Verkehrsprojekte
Deutsche Einheit". Offenbar konnte in den Anfangsjahren dieses Programmes noch
recht frei mit den Mitteln umgegangen werden, so daß aus diesen Geldern einige
Fassadensanierungen realisiert wurden, so in Glöwen und Bad Wilsnack.
Mittlerweile dürfen die Finanzmittel fast nur noch für den Fahrwegausbau
genutzt werden.
Der Streckenausbau veränderte das Gesicht der Bahnanlagen erheblich.
Zahlreiche Nebengebäude wurden bzw. werden abgerissen. Die Nutzung der
Empfangsgebäude für Fahrdienstzwecke entfällt mit der durchgreifenden
Modernisierung der Signaltechnik. In Zukunft soll die gesamte Strecke Berlin -
Hamburg durch ein Stellwerk in Hagenow Land ferngesteuert werden. Verbunden
mit der Aufgabe von Dienstleistungen für die Bahnreisenden
(Fahrkartenschalter, Gepäckaufgabe, Information, Bahnhofsgaststätten der
Mitropa) im Zuge des Personalabbaus bei der DB AG sind zahlreiche Bahnhöfe
bereits zu menschenleeren "Geisterbahnhöfen" geworden.
Wittenberge: Droht der Verfall?
|
5.000 m² Nutzfläche mit Gleisanschluß zu vermieten. Sie suchen ein schönes geräumiges Büro? Oder einen Tanzsaal? Kein Problem. Im Bahnhof Wittenberge bekommen Sie alles! Für das Empfangsgebäude der Prignitzstadt werden schon bald neue Nutzer gesucht. Denn 1999 sollen die Gleise der „Magdeburger Seite“ zugunsten eines Vorplatzes verschwinden und gemeinsam mit den „Berliner Gleisen“ an der Ostseite vereinigt werden. Die neuen Bahnsteige samtTunnel liegen dann nördlicher als heute, weshalb die Bahn dort ein neues Empfangsgebäude bauen will. Foto: Frank Böhnke |
|
Das dreigeschossige, voluminöse Empfangsgebäude des Bahnhofes Wittenberge ist
ein wahres Schmuckstück der Bahnhofsarchitektur. Die Fassade ist restauriert.
Demgegenüber wurden innen bisher keine Modernisierungen vorgenommen. Im
Untergeschoß befinden sich noch die Fahrkartenausgabe, ein kleines
Imbiß-Restaurant und die Wartehalle. Nach betrieblichen Rationalisierungen der
DB AG (Aufgabe der Gepäckabfertigung und Information, Vereinfachung der
Zugabfertigung) und nach Schließung der Mitropa-Gaststätte mit ihrem
repräsentativen Speisesaal ist das Erdgeschoß durch weitgehenden Leerstand
geprägt. Dabei erscheinen die Räume zwar sauber und gepflegt, sie sind jedoch
kaum den aktuellen Erfordernissen entsprechend gestaltet. In den
Obergeschossen unterhält die DB - noch - zahlreiche Büros ihrer
Verwaltungsstellen.
In Wittenberge beginnt die DB AG 1998 mit umfangreichen Bauarbeiten, die das
Gesicht der Bahnanlagen vollkommen verändern werden. So sollen die Gleise der
"Magdeburger Seite", die bislang das Empfangsgebäude von der Stadt trennen,
verschwinden. So gibt es dann die Chance, das Gebäude in die Stadt
einzubinden. Aufgrund der Vorgabe, daß Züge auf der Strecke Berlin - Hamburg
den Bahnhof mit 160 km/h durchfahren können sollen, muß die Einfahrtkurve aus
Richtung Berlin gestreckt werden, so daß eine Verlagerung der Bahnsteige
erforderlich wird. Das ist fatal für die Zukunft des Empfangsgebäudes: Werden
die Bahnsteige heute noch direkt
vom Empfangsgebäude erreicht, so soll der Zugang nach Abschluß der Bauarbeiten
rund 40 m nördlich des ehrwürdigen Gebäudes liegen. Leider plant die DB AG
deshalb die vollständige Aufgabe des Empfangsgebäudes, das ihrer Ansicht
nach künftig zu weit entfernt von den Reisendenströmen liegt.
Stattdessen soll in Wittenberge ein neues Empfangsgebäude gebaut werden. Gut
für die Bahnkunden: Endlich wird es dann in Wittenberge eine vernünftige
Verknüpfung mit dem Busverkehr geben können, und die freiwerdenden Flächen
der "Magdeburger Seite" bieten Platz für einen angemessenen Bahnhofsvorplatz.
Schlecht für das alte Empfangsgebäude: Es bleibt die Frage, wie verhindert
werden kann, daß ein wichtiges Zeugnis historischer Bahnhofsarchitektur
verkommt.
Bad Wilsnack:
Zwei nutzlose Empfangsgebäude
Gleich zwei Empfangsgebäude hat die kleine, in der Nähe des Naturparks
Elbtalauen gelegene Kurstadt Bad Wilsnack: neben dem alten, renovierten
Gebäude auch ein "nagelneues". Doch beide sind für den Bahnkunden
ohne Nutzen. Wie kam es dazu?
|
Historisch getreu hergerichtet präsentiert sich der Bahnhof Bad Wilsnack - allerdings ohne Funktion für die Bahnkunden. Hier könnte das touristische Potential der Kurstadt am Standort Bahnhof ausgeschöpft werden. Foto: Frank Böhnke |
|
Im Rahmen des Streckenausbaus wurde eine neue Unterführung errichtet, in
deren Zugangsbauwerk ein Fahrkartenschalter und ein Dienstraum für das
Bahnpersonal integriert wurden. Der Schalter war jedoch sehr schnell wieder
geschlossen - natürlich ohne abzuwarten, wie sich die Reisendenzahlen beim
nun stark verbesserten Angebot (Stundentakt, Direktverbindung nach
Berlin-Charlottcnburg) entwickeln würden. Damit ergibt sich in Bad Wilsnack
die paradoxe Situation, daß Fahrkartenschalter und Diensträume jeweils
in einem renovierten und einem neu errichteten Gebäude vorhanden sind,
aber beide nicht mehr genutzt werden.
Neustadt (Dosse): Unsichere Zukunft
Unsicher ist auch die Zukunft des Empfangsgebäudes in Neustadt (Dosse). Noch
befinden sich
im Inneren des Gebäudes eine Wartehalle mit Fahrkartenschalter und eine
Gaststätte, die den Ortsfremden jedoch selten zum Verweilen einläd. Wie so
häufig wird hier der Bahnkunde vor der Nutzung der Toiletten gewarnt,
die allenfalls gegen die "Entrichtung eines Entgelts" zu nutzen sind.
Auch in Neustadt (Dosse) stehen umfangreiche Bauarbeiten an den Gleisanlagen
an. Auch hier wird von der DB AG der Neubau des Bahnsteigtunnels mit einem
zum Empfangsgebäude leicht versetzt liegenden Eingang als Vorwand zur
kompletten Aufgabe des Gebäudes benutzt. Möglicherweise wird ein
"multifunktionaler Dienstleistungspavillon" (PlusPunkt) dann die Funktionen
des Bahnhofsgebäudes übernehmen. Ob es dann noch Personal am Bahnhof
geben wird, scheint mehr als fraglich.
Paulinenaue: Der Verfall hat begonnen
Am monumentalen Empfangsgebäude des Bahnhofes Paulinenaue werden nur noch die
notwendigsten Instandsetzungsarbeiten durchgeführt. Trotz der geringen
Bedeutung der Gemeinde Paulinenaue ist das Gebäude wesentlich größer als in
Neustadt (Dosse) und Bad Wilsnack. Jetzt nicht mehr durch Personal besetzt
ist schnell passiert, was in solchen Fällen üblich ist: Die noch zugänglichen
Innenräume befinden sich in einem desolaten Zustand und Dreck, Schmierereien,
verbarrikadierte Fenster, eingeschlagene Scheiben sowie abblätternder Putz
prägen das Bild. Zwar will die DB AG den Gesamteindruck durch Malerarbeiten
etc. verändern. Bereits jetzt ist allerdings abzusehen, daß etwaige
Verschönerungen nur von kurzer Dauer sind.
Alternativen zur "Geisterbahn" mit verfallenden Bahnhofsgebäuden
Derzeit zeichnet sich in allen betrachteten Fällen ab, daß am Rande einer
hochmodernen Eisenbahnstrecke attraktive historische Empfangsgebäude entweder
zukünftig von Dritten ohne Bezug zum Bahnverkehr genutzt werden oder die
Gebäude verfallen.
Gesucht sind daher Lösungen einer innovativen Trägerschaft, bei der die DB AG
als Betreiber des Eisenbahnverkehrs, das Land als Träger des Regionalverkehrs
auf der Schiene und die Kommunen sowie weitere Partner eine Nutzung der
Empfangsgebäude anstreben, die an dem Bedarf der Bahnkunden orientiert ist.
Für Wittenberge, Bad Wilsnack und Neustadt (Dosse) sind solche Lösungen
denkbar, die auch die touristischen Potentiale der Regionen berücksichtigen
sollten.
Deutscher Bahnkunden-Verband Landesverband Brandenburg
|