Obwohl das Straßenbahnnetz Berlins seit
1990 nicht so gewachsen ist wie nötig und
erhofft, erlebt dieses Verkehrsmittel in der
Hauptstadt einen Boom. Deutlich ablesbar
ist das an den seit 1994 beschafften Niederflurwagen.
Während die GT6 als Pioniere nur
27 m lang sind (allerdings für Doppeltraktionen
von 55 m geeignet), wurden von der
Bauart Flexity schon Varianten von 31 m und
40 m Länge beschafft.
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Fotomontage: So könnte eine 11-teilige 60 Meter lange Straßenbahn aussehen. Die IGEB fordert, bei der dritten Niederflurgeneration der BVG nicht nur 50, sondern 60 Meter lange Züge zu bestellen, denn mit der vollen Ausnutzung der Haltestellenlänge stehen Kapazitätsreserven zur Verfügung, die aufgrund der wachsenden Fahrgastzahlen künftig genutzt werden müssen. Foto/Montage: Raul Stoll |
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Die Nachfolger sollen mit 50 Metern noch
länger werden. Und wenn der Senat mit
seinem Netzausbauprogramm ernst macht,
dann wird auch das nicht reichen. Zugleich
wurden die Wagen breiter, von 2,2 m bei
den Tatrawagen über 2,3 m beim GT6 bis hin
zu 2,4 m beim Flexity. Breiter als 2,4 m wird
allerdings auch die nächste Fahrzeuggeneration
nicht werden, denn schließlich kann
man nicht alle 15 Jahre das Netz umbauen.
Der Hintergrund
Im Mai 2016 veranstaltete die Senatsverkehrsverwaltung
zusammen mit der BVG
eine erste Anhörung für die Fachöffentlichkeit
zur vorgesehenen Fahrzeugbeschaffung.
Grundlage der damals vorgestellten
Planung waren die Probleme durch das
erfreulich starke Fahrgastwachstum, was
zur nochmaligen Hauptuntersuchung bei
40 Tatra-Wagen führte. Bei den GT6-Wagen
war mehr als nur eine Hauptuntersuchung
erforderlich, weil die BVG mangels gleichartiger
elektronischer Ersatzteile zu einem
teuren Neubau der Antriebselektronik gezwungen
war.
Ursprünglich war im Rahmen dieser Ertüchtigung
auch eine Verbesserung des
Fahrgastkomforts durch neugestaltete Innenräume
vorgesehen, aber wie (nicht nur)
der Fahrgastverband seit Jahren beklagt, fallen
diese Aspekte immer zuerst dem Rotstift
zum Opfer – genau wie zeitgemäße Kundeninformation
in den aufgearbeiteten alten
U-Bahnen.
Die Zeichen der Zeit
Nach den vorliegenden überwiegend guten
Erfahrungen mit den Flexitys möchte
die BVG wieder ein modular aufgebautes
Multigelenkfahrzeug beschaffen. Auch die
vorgesehene Raumaufteilung soll sich am
Flexity orientieren. Allerdings sollen, der
erwarteten künftigen Netzgestaltung Rechnung
tragend, nur noch Zweirichtungswagen
beschafft werden.
Selbstverständlich sollen bei den zukünftigen
Straßenbahnen alle Aspekte der
Barrierefreiheit berücksichtigt werden. Neben
den Klassikern (Klapprampe an der Tür,
Stellplätze an definierten Orten im Fahrzeug,
Sondertaster für Haltewunsch und Türöffnung)
wird es nun auch unterschiedliche
Höhen für die Türtaster, spezielle Sitze für
Kleinwüchsige sowie für nicht rollstuhlgebundene
Mobilitätseingeschränkte und das
Zwei-Sinne-Prinzip bei der Fahrgastinformation
(Ansage zusammen mit Anzeige) geben.
Die Anhörung zeigte aber in manchen
Punkten auch Interessengegensätze zwischen
den verschiedenen Nutzergruppen
auf. So führt eine dauernde Fixierung auf
wahrnehmungseingeschränkte Menschen
zu einer erhöhten Lärmbelastung für die
Mehrzahl der anderen Fahrgäste, zum Beispiel
durch Türfindesignale und Dauerbeschallung
mit sich wiederholenden Infos wie
Linie und Ziel. Durch die Außenlautsprecher
an den Haltestellen werden zusätzlich die
Anwohner belästigt.
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Die geplanten zwei Zuggrößen von 30 Meter und 50 Meter Länge. Eine mögliche spätere Verlängerung der kurzen Züge wird von der BVG erhofft, aber die kurze Beschaffungsdauer der elektronischen Komponenten spricht leider dagegen. Auch die Verlängerung der XLZ-Wagen auf 60 Meter könnte daran scheitern – deshalb lieber gleich großzügig beschaffen! Grafik: Holger Mertens |
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Das kann die Akzeptanz der Straßenbahn
beeinträchtigen und Neubaustrecken in
vorhandenen Wohngebieten erschweren.
Senat und BVG sind deshalb gefordert, sich
frühzeitig mit Alternativlösungen aus anderen
Städten zu befassen, zum Beispiel eine
anforderungsgesteuerte Zusatzansage, die
nur erfolgt, wenn jemand sie benötigt.
Bekenntnis zum Wachstum!
Ein anderer Konflikt ist der Kampf um den
Platz im Fahrzeug. Natürlich nehmen Fahrgäste
mit Kinderwagen, Rollator oder Rollstuhl
mehr Platz ein als der „übliche“ Fahrgast.
Der zusätzliche Platzbedarf lässt sich
aber begrenzen, wenn es gemeinsame Aufstellflächen
für diese Fahrgäste gibt. Dennoch
wird der Platzbedarf bei angemessener
Berücksichtigung dieser Anforderungen
stärker steigen als die Fahrgastzahlen, was
vermehrt zu Konflikten führen wird – das gilt
übrigens auch für die anderen Verkehrsmittel.
Statt den Streit nun durch die Fahrgäste
in den Wagen austragen zu lassen, muss das
Konfliktpotenzial bereits bei der Fahrzeugbestellung
vermindert werden. Und damit
sind wir bei den geplanten Zuggrößen.
Wie eingangs dargelegt musste die BVG
bei allen bisherigen Bestellungen ihre Prognosen
nach oben korrigieren. Diese erfreuliche
Entwicklung fand in einem verkehrspolitisch
schwierigen Umfeld statt, das die
Straßenbahn in ihrer Entwicklung behinderte.
Dennoch stiegen die Fahrgastzahlen.
Und sie werden erst recht steigen, wenn der
neue Senat seine Straßenbahnpläne umsetzt.
Dabei ist zu beachten, dass die Neubaustrecken
vorrangig auf Verkehrskorridoren
mit großem Fahrgastpotenzial geplant
werden. Das wird in Zukunft den Anteil der
Linien mit Bedarf für lange Züge erhöhen.
Hinzu kommt das anhaltende Wachstum
der Stadt. Und quasi als i-Punkt obendrauf
gibt es die Forderungen nach mehr Platz für
ALLE Nutzergruppen, also mehr Stellflächen,
mehr Sitzplätze, mehr Türen, mehr Beinfreiheit
und so weiter.
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Entlang der großen Radialstrecken sind seit der Wende alle Haltestellen mit 60 Meter Länge neugebaut worden. Teure Infrastruktur und volle Züge, die von Jahr zu Jahr immer voller werden. Diese 60 Meter langen Bahnsteige nur mit maximal 50-Meter-Fahrzeugen zu befahren, bedeutet auf Jahrzehnte 1/6 der teuren Infrastruktur ungenutzt brachliegen zu lassen. Man stelle sich vor, in 6er-Eierkartons wären immer nur maximal 5 Eier drin … Foto: Holger Mertens |
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In dieser Situation muss für die am stärksten
belasteten Linien die „große Lösung“
gewählt werden: der 60-Meter-Zug für rund
400 Fahrgäste.
Selbstverständlich sollten die Möglichkeiten
eines modularen Fahrzeugkonzepts
ausgeschöpft und zum unveränderten Ersatz
eines GT6 auch wieder eine entsprechend
verkürzte Variante beschafft werden.
Und wenn daraus folgt, dass der 30-Meter-Wagen
sowieso zum Bestellumfang gehört
und es vielleicht preiswerter ist, einen 60 m
langen Zug aus zwei kürzeren Wagen zusammenzukuppeln,
dann ist das genauso
gut. Schlecht wäre aber die vorschnelle Festlegung
auf eine maximale Zuggröße von 50
Metern – besonders nach der langen und
teuren Ertüchtigung des Berliner Netzes für
60-Meter-Züge.
Bewährtes bewahren
Ein großes Lob verdienen die Verantwortlichen
der BVG für ihren guten Blick auf
die wichtigen Details. Auch wenn es den
Stammfahrgästen nicht mehr auffällt: Die
kontrastreiche Gestaltung der Haltestangen
und -griffe, die Freihaltung von genügend
Platz für die Beine und Füße der
sitzenden Fahrgäste oder auch die praktische
Klapprampe zum Mehrzweckabteil
sind in der europäischen Straßenbahnwelt
noch nicht selbstverständlich. Hier
die guten Seiten des Flexity zur Basis der
Ausschreibung zu machen, ist der richtige
Weg.
Zwar nicht sichtbar, aber leider manchmal
hörbar: das Fahrwerk. Auch hier sollte
die BVG vom Flexity gelernt haben, dieses
Mal von seinen schlechten Seiten. Es hat
Jahre gedauert, bis ein wirksames Mittel
gegen Kurvengeräusche gefunden war.
Bei der nächsten Typenreihe sollte dieses
Problem von Anfang an kein Thema mehr
sein.
ÖPNV im Informationszeitalter
Auch beim Thema Fahrgastinformation ist
eine stetige Weiterentwicklung sichtbar –
wenn auch aus Fahrgastsicht zu langsam.
Wie schon im SIGNAL 1/2017 zu den geplanten
neuen U-Bahnen beschrieben, genügt
es heute nicht mehr, einen Monitor in den
Wagen zu hängen und dann nur die nächsten
drei Haltestellen anzuzeigen. Gerade in
einem so komplexen Netz wie in Berlin sollten
der gesamte Linienverlauf, der darin eingebettete
aktuelle Standort sowie die Anschlüsse
an der nächsten Haltestelle in Echtzeit
angegeben werden. Die Ausstiegsseite
der nächsten Haltestelle und dynamisch aktualisierte
Hinweise zur Verkehrslage sollten
erkennbar sein.
Eigentlich gehören diese Punkte nicht
in eine Erörterung der „Hardware“ für die
nächsten Straßenbahnen, aber bei der Anhörung
2016 wurde deutlich, dass die BVG
mangels geeigneter Software und Programmierkapazitäten
sogar daran dachte, sich
hier gar nicht weiterzuentwickeln. Es war
die Rede davon, dass die Kunden doch mehr
davon hätten, wenn sie diese Informationen
per App auf ihr Handy bekommen. Vergessen
wurde dabei, dass der Verkehrsbetrieb
auch die Inhalte der Apps speisen muss und
es sich bei vielen dieser Infos nicht um verzichtbare
Luxusangaben handelt, sondern
um die Pflichtaufgaben der BVG.
Dasselbe trifft übrigens auch auf die Fahrgelderhebung
zu, bei der die BVG mangels
geeigneter Automaten in den Straßenbahnen
nun schon seit Jahren Geld verliert (siehe
hierzu auch Seite 14).
Handeln im dynamischen Umfeld
Straßenbahnen sind, wie andere Bahnen
auch, langlebiger als Kommunikationstechnik.
Wenn die BVG also eine nachträgliche
Modernisierung der Fahrgastinformation
technisch und finanziell erleichtern will,
dann sollte sie hier mit kreativer Anwendung
des Baukastenprinzips arbeiten. Für
die Geräte sollten geeignete Einbauorte
und -größen und für die Daten- und Energieversorgung
Normschnittstellen festgelegt
werden. Das gilt übrigens auch für
die betriebsinterne Kommunikation – die
Arbeit mit der Einführung eines neuen Betriebsfunks
und die Auswirkungen auf die
Fahrgäste während der Umstellungsphase
sind noch nicht vergessen.
Es ist gut, dass sich der Senat von Berlin
und sein Verkehrsbetrieb schon so frühzeitig
Gedanken um die neuen Fahrzeuge gemacht
haben. Aber es war nicht früh genug. Die
optimistische Prognose ging davon aus, dass
noch 2016 die Ausschreibung erfolgt und
2018 oder 2019 die Prototypen zum Testen
eintreffen. Dieser Zeitplan ist nicht mehr zu
halten. Mit der Serienlieferung ist nun erst in
der zweiten Hälfte der 20er Jahre zu rechnen.
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Niederflurfahrzeug der ersten Generation. Als Doppeltraktion mit 55 Metern Länge nutzen sie die Haltestellenlänge fast optimal aus. Die Zweirichtungsversion ermöglicht eine flexiblere Betriebsführung bei Baustellen und Störungen. Auch der Nachfolger der dritten Generation muss diese Mindestanforderung erfüllen. Foto: Tom Gerlich |
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Das verzögert die Möglichkeiten, mit den
neuen größeren Fahrzeugen auf wachsende
Fahrgastzahlen zu reagieren. Außerdem
sollte die Lücke zwischen der letzten Flexity-Lieferung
(siehe Artikel auf Seite 4) und der
ersten Nachfolgelieferung nicht allzu groß
werden, um nicht wieder alle Reserven aufbrauchen
zu müssen. Allerdings wäre es vollkommen
falsch, den Zeitplan durch Verzicht
auf Prototypen zu straffen. Wie wichtig die
Erfahrungen aus dem Einsatz der Vorserienfahrzeuge
sind, hat die BVG bei den Flexity
selbst bewiesen.
Perspektiven
Die Tatsache, dass mit der nun geplanten
Neubeschaffung schon die ersten GT6-Niederflurwagen
abgelöst werden sollen, gibt
allerdings auch zu denken. Der klassische
Straßenbahnwagen Berlins, der T24, fuhr
von 1924 bis 1969, das sind 45 Jahre. Der
KT4D fuhr von 1974 bis mindestens 2020.
Selbst wenn man eingesteht, dass heute
nicht mehr die Wagen der ersten Lieferserien
im Dienst sind, sondern die der Baujahre
um 1989, sind das immer noch 30 Jahre.
Die nun in Frage gestellten ältesten GT6
wurden 1994 geliefert und sollten nach
bisheriger Planung ab 2020 ersetzt werden,
also nach nur 26 Jahren. Je teurer die Wagen
werden, desto eher verschleißen sie. Das
jetzt angelaufene Verfahren zur Beschaffung
der nächsten Tramgeneration wird
dieses Problem nicht lösen, aber nur ein so
großer Betrieb wie die BVG hat die Marktmacht,
in Zukunft eine Umkehrung dieses
teuren Trends anzustoßen.
Die weitere Ertüchtigung der GT6 mit
ihrem teuren Austausch der Antriebs-Elektronik
zeigt auch, dass die Versprechen der
meisten Hersteller über eine lebenslange
Flotten-Modularität nichts taugen. Sollte
sich ein Verkehrsbetrieb nach 15 Jahren entscheiden,
seine Wagen zu verlängern, dann
gibt es ganz sicher nicht mehr die Teile, um
den Antrieb mit anzupassen. Dies ist ein weiterer
Grund, jetzt nicht zu klein einzukaufen
und sich auf eine spätere Verlängerung der
Wagen vertrösten zu lassen.
Schließlich muss, wie für die nächste
U-Bahn-Generation, auch bei der Straßenbahn
auf die nötigen Reserven hingewiesen
werden. Straßenbahnen können bei Ausfall
nicht auf die Schnelle andernorts ausgeborgt
werden. Für den Fahrgast ist ein zusätzlicher
Wagen im selben Flottenpreis besser
als der Abzug von Bestellgeldern wegen
Ausfall von Fahrten.
Titelthema Straßenbahn
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