Berlin: Weichenstellung im
Hauptausschuss
Wer sich die Tagesordnung der Hauptausschuss-
Sitzung des Abgeordnetenhauses
vom 29. März 2017 ansieht, kann nicht sofort
erkennen, dass unter TOP 23 „Machbarkeitsstudie
Radschnellwege – Fortschrittsbericht
(Berichtsauftrag aus der 2. Sitzung vom
18. Januar 2017)“ eine wichtige Entscheidung
zugunsten der Stammbahn getroffen
wurde.
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Welche Bedeutung die Stammbahn in den 1930er Jahren für den Verkehr von und nach Berlin hatte, veranschaulicht diese Zeichnung der Bürgerinitiative Stammbahn. BI Stammbahn |
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Aber als die Ausschussmitglieder über den
Bericht diskutierten, der sich auch mit einem
Radschnellweg auf der Trasse der nicht befahrenen
Stammbahn befasst, vermerkt das
Inhaltsprotokoll des Abgeordnetenhauses:
„Sven Heinemann (SPD) gibt zu Protokoll, dass
seine Fraktion die Verkehrsverwaltung auffordere,
die Planungen zur Trasse „Potsdamer
Stammbahn“ nicht weiter zu verfolgen. Im
Koalitionsvertrag sei festgehalten, dass die
Stammbahn reaktiviert werden solle. Harald
Wolf (LINKE) schließt sich dieser Aufforderung
an. Neben der Koalitionsvereinbarung und
der Tatsache, dass es für die Umsetzung eines
Radschnellweges auf der Stammbahn
erkennbar keine politische Mehrheit
gebe, existiere ein deutlich artikuliertes
Interesse der Deutschen
Bahn zur Reaktivierung
der Stammbahn. Aus diesem
Grund sei Abstand davon zu
nehmen, für dieses Vorhaben
planerische Ressourcen zu
verschwenden.“
Nach der Aussprache über
den Bericht beschlossen die
Abgeordneten dann, die Senatsverwaltung
für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz
zu bitten, „dem Hauptausschuss
[ ] am 20. Oktober 2017 einen weiteren Fortschrittsbericht
zu den Radschnellwegen
vorzulegen, in dem u. a. die Routenführung
der geplanten Radschnellwege deutlicher
dargestellt wird und zu folgenden Punkten
Stellung genommen wird: […] Welche konkreten
Planungen hat die Deutsche Bahn,
die Stammbahntrasse zu reaktivieren?“
Wieso sich der Ausschuss hier auf das Abfragen
von Planungen der Deutschen Bahn
beschränkt und nicht eine Positionierung
des Senats zur Stammbahn fordert, ist nicht
zu verstehen. Denn immerhin ist das Land
Berlin Aufgabenträger des SPNV und könnte
mit einer Bestellung von Verkehrsleistungen
die Zukunft der Stammbahn absichern.
Aber die klare Absage an
einen Radweg zu Lasten
der Stammbahn ist
ein wichtiger
Erfolg.
Steglitz-Zehlendorf: Weichenstellung in
der Bezirksverordnetenversammlung
Innerhalb Berlins liegt die Stammbahntrasse
fast vollständig in den Bezirken Tempelhof-Schöneberg
und Steglitz-Zehlendorf. Beide
haben sich in den letzten Jahren für einen
Radschnellweg auf den nicht genutzten
Gleisen engagiert.
Vor diesem Hintergrund ist der Beschluss
der Bezirksverordnetenversammlung
Steglitz-Zehlendorf vom 17. Mai 2017 ein
wichtiger Erfolg: „Das Bezirksamt wird ersucht,
sich bei den zuständigen Stellen dafür
einzusetzen, dass sowohl die Reaktivierung
der Berlin-Potsdamer Stammbahn als auch
ein bezirksdurchquerender, möglichst kreuzungsfreier
Fahrradschnellweg realisiert
werden kann.
Dazu ist erforderlich:
- Eine erneute nunmehr faire Nutzen-/Kostenuntersuchung
unter Berücksichtigung
der neuen Rahmenbedingungen
der wachsenden Stadt soll klären, ob nunmehr
eine positive Bewertung einer Reaktivierung
der Stammbahnstrecke erzielt
wird.
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Die Stammbahn, erste Bahnstrecke in Preußen, verbindet Potsdam und Berlin, wird auf Abschnitten aber nicht mehr befahren. Die Planung eines Radschnellweges auf der Bahntrasse hat die Diskussion um die Zukunft der Strecke in den letzten zwei Jahren enorm belebt. Zeichnung: Mathias Hiller |
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- Keine Baumaßnahmen sollen die spätere
Inbetriebnahme der Stammbahntrasse
verhindern. Die DB Netz soll außerdem
gebeten werden, die Instandhaltung von
Bahndämmen, Brückenpfeilern und anderen
Anlagen so zu leisten, dass ein Wiederaufbau
der Schienenanlagen erleichtert
wird.
- Ein Fahrradschnellweg für Fahrräder und
Pedelecs soll ebenfalls zwischen Potsdam
und Berlin-Schöneberg/Mitte realisiert
werden. Dieser Weg soll so weit wie möglich
direkt neben der Stammbahnstrecke
verwirklicht werden, besonders wichtig
ist eine weitgehende Kreuzungsfreiheit.
- Die Verbesserung der Anbindung von
Stahnsdorf, Kleinmachnow und Teltow
soll bei einer Reaktivierung der Stammbahn
bedacht werden („Friedhofsbahn“
und/oder Verlängerung der S-Bahn über
Teltow hinaus).“
Der Bezirk hat die Hoffnung auf einen attraktiven
Radschnellweg also nicht aufgegeben,
bekennt sich aber eindeutig zum Wiederaufbau
der Stammbahn.
K.O.-Kriterium Schallschutz
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Eine „Gesamthafte ÖPNV-Untersuchung” schlägt der VBB für die Stammbahn vor. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, hätte man allerdings keine aufwendigen Korridoruntersuchungen anstellen müssen. Quelle: VBB-Präsentation zum Regionaldialog am 9. Juni 2017 in Bad Belzig |
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Bemerkenswert ist die Forderung der Bezirksverordneten
nach einer „fairen“ Nutzen-Kosten-Untersuchung. Offensichtlich hat es
sich herumgesprochen, dass politisch nicht
gewollte Strecken über die Nutzen-Kosten-
Rechnung schlechtgerechnet werden – und
umgekehrt. Bei oberirdischen Bahnstrecken
in Siedlungsgebieten ist das besonders einfach
durch Einrechnung der extrem hohen
Kosten für den Schallschutz.
Hier ist der Gesetzgeber gefordert: Es
darf nicht sein, dass der umweltfreundliche
Schienenverkehr durch die berechtigte
Umweltauflage Schallschutz in der Nutzen-Kosten-Rechnung
ausgebremst wird. Diese
Absurdität betrifft alle Streckenneubauten
ebenso wie die Elektrifizierung vorhandener
Bahnstrecken.
Brandenburg: Weichenstellung im
Ministerium
Das Land Brandenburg ist gerade dabei, seine
jahrelange defensive SPNV-Politik zumindest
teilweise aufzugeben, nachdem es sich
bisher stets darauf beschränkt hatte, das
bestehende Angebot zu bewahren.
Für die Bereitschaft zum Umdenken
im zuständigen Ministerium bedurfte es
allerdings einiger Anstöße von außen. So
beschloss der brandenburgische SPD-Landesvorstand
am 4. Mai 2015, „das bestehende
Regional- und S-Bahn-System
zwischen Brandenburg und Berlin […]
gemäß Koalitionsvertrag hinsichtlich der
Leistungsfähigkeit zu überprüfen und
für die zukünftigen Verkehrsanforderungen
weiterzuentwickeln“ (vollständig
nachzulesen in SIGNAL 3/2015). In der Begründung
zum Beschluss wird dann u. a.
ausgeführt: „Für folgende Achsen sind dabei
grundsätzliche Entscheidungen zum
Infrastrukturausbau bzw. zur Bedienform
zu treffen: […] Potsdamer Platz—Zehlendorf—Potsdam“.
Auch die CDU-Fraktion im Landtag Brandenburg
setzte ein bemerkenswertes Zeichen
und beauftragte im August 2016 die
Innoverse GmbH mit der Erarbeitung einer
„Entwicklungsstrategie für den Schienenpersonennahverkehr
(SPNV) in Berlin und Brandenburg“.
Erarbeitet wurde das Gutachten
von Hans Leister (SPD-Mitglied!) und Detlef
Woiwode, beide einst Mitarbeiter der Deutschen
Bahn.
Zur Stammbahn schreiben die Autoren der
im März 2017 von der CDU präsentierten Arbeit:
„Für eine weitere Verbesserung der Anbindung
des westlichen Berliner Umlandes
sowie zur Entlastung der Berliner Stadtbahn
ist der Wiederaufbau der Stammbahn unbedingt
erforderlich. Ohne Stammbahn ist es
nicht möglich, ausreichend Züge aus dem
Westen Brandenburgs nach Berlin anzubieten.“
Mehr zu dem Gutachten s. Seite 19.
Diese Anstöße von außen, nicht zuletzt
auch seitens der Fahrgast- und Umweltverbände,
scheinen nun in der Landesregierung
ein Umdenken ausgelöst zu haben,
das auch positive Auswirkungen auf die
Stammbahn haben könnte. In der Diskussion
zum Landesnahverkehrsplan 2018 bis
2022 hat das Ministerium für Infrastruktur
und Landesplanung Anfang Juni 2017 unter
der Überschrift „Infrastruktur für Wachstum
entwickeln“ acht Projekte benannt, darunter
immerhin auch den „Korridor Potsdamer
Stammbahn“.
Fazit
Drei „regierende“ Akteure haben sich im
Frühjahr 2017 zumindest grundsätzlich zum
Wiederaufbau der Stammbahn bekannt.
Hinzu kommt die oppositionelle CDU-Fraktion
im Landtag Brandenburg. Das darf nach
der bisherigen Entwicklung als großer Fortschritt
gewertet werden.
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S-Bahnhof Zehlendorf Süd, 1972 gebaut, 1980 stillgelegt. Das „Empfangsgebäude”, ein Bahnsteigschild und die Bahnsteigleuchten zeugen von der einstigen Station. Wenn diebStammbahn als Regionalzugstrecke wiederaufgebaut wird, wofür es gute Gründe gibt, werden in Zehlendorf Süd allerdings nie wieder Züge halten. Foto: IGEB (2016 |
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Doch Euphorie ist nicht angebracht. Berlin
und Brandenburg haben sich bisher nicht
entschieden, ob die Stammbahn für den Regional-
oder S-Bahn-Verkehr aufgebaut werden
soll. Die positiven Auswirkungen auf das
Eisenbahnnetz im Raum Berlin-Brandenburg
mit einer Entlastung der Stadtbahn und die
regionale Verkehrsnachfrage sprechen für
eine Regionalverkehrsstrecke mit Oberleitung.
Deshalb tendiert auch der Berliner Fahrgastverband
IGEB zu dieser Variante.
Demgegenüber ist mit einer S-Bahn die
Feinerschließung besser, z. B. durch Wideraufbau
des S-Bahnhofs Zehlendorf Süd.
Und zwischen Zehlendorf und Schöneberg
können die vorhandenen S-Bahn-Gleise genutzt
werden, so dass die teuren und hässlichen
Schallschutzwände entbehrlich wären,
die außerdem eine Regionalbahnstrecke in
der Nutzen-Kosten-Rechnung schnell unter
den erforderlichen Faktor 1 treiben werden.
Die größte Gefahr aber ist, dass die Diskussion
um S-Bahn oder Regionalbahn auf der
Stammbahn zu einer Wiederholung des Havelland-Desasters
führen dürfte. Dort haben
sich die Verfechter von Regionalzügen und
S-Bahn-Zügen so sehr zerstritten, dass auch
mehr als 25 Jahre nach dem Mauerfall diese
wichtige Berlin-Umland-Verbindung nicht
leistungsfähig ausgebaut werden kann.
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Zugang zum ehemaligen Stammbahnsteig Zehlendorf. Mit der heute Stammbahn genannten Strecke begann 1838 die preußische Eisenbahngeschichte. Nicht Nostalgie, sondern verkehrs-und umweltpolitische Argumente sprechen heute für eine schnelle Wiederherstellung dieser Strecke. Foto: Kai-Uwe Thiessenhusen (2016) |
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Eine ähnliche unendliche Debatte wäre
fatal. Aber sie ist zu befürchten, findet vielerorts
jetzt schon statt. Hinzukommen werden
die Akteure, die einen Wiederaufbau
der Stammbahn – für welchen Verkehr auch
immer – rundweg ablehnen.
Bis also die ersten Züge auf der Stammbahn
fahren können, werden noch sehr viele Jahre
vergehen. Dennoch sind die oben zitierten
politischen Bekenntnisse ein wichtiger Erfolg.
Denn auch und gerade für die Stammbahn
gilt die chinesische Weisheit: Auch der längste
Weg beginnt mit dem ersten Schritt.
Berliner Fahrgastverband IGEB
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