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Deutschland gegen Europa
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Bahnhof Frankfurt (Oder). Die Nutzung u. a. auch der Regionalexpresslinie 1 (Magdeburg—Berlin—Cottbus) ist durch die 0,76 Meter hohen Bahnsteige für Fahrgäste, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, nur mit fremder Hilfe möglich. Foto: Christian Schultz |
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In der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung
(EBO) sind in Deutschland in § 13
„Bahnsteige, Rampen“ derzeit folgende Regelungen
zu finden: Bei Neubauten oder
umfassenden Umbauten von Personenbahnsteigen
sollen in der Regel die Bahnsteigkanten
auf eine Höhe von 0,76 Meter
über Schienenoberkante gelegt werden;
Höhen von unter 0,38 Meter und über 0,96
Meter sind unzulässig. Bahnsteige, an denen
ausschließlich Stadtschnellbahnen halten,
sollen auf eine Höhe von 0,96 Meter
über Schienenoberkante gelegt werden. In
Gleisbogen ist auf die Überhöhung Rücksicht
zu nehmen.
Die Eisenbahnbau- und Betriebsordnung
in Österreich enthält in § 20 „Bahnsteige,
Rampen“ demgegenüber folgende, von
Deutschland abweichende Regelung: Bei
Neubauten von Bahnsteigen müssen in der
Regel die Bahnsteigkanten auf eine Höhe
von 0,55 Meter über Schienenoberkante
gelegt werden; Höhen von unter 0,38 Meter
und über 0,76 Meter sind unzulässig. In
Gleisbogen ist auf die Überhöhung Rücksicht
zu nehmen.
Nicht nur in Österreich, sondern beispielsweise
auch in Italien, Frankreich, Dänemark,
Tschechien, der Slowakei und der Schweiz
wird eine Bahnsteighöhe von 0,55 Metern
bei Neu- und Umbauten konsequent umgesetzt.
Deutschland verzichtet auf
Barrierefreiheit
Mit der Festlegung des Bundesverkehrsministeriums
auf einheitlich 0,76 Meter hohe
Bahnsteige beschreitet Deutschland also
einen Sonderweg in Europa, der außerdem
das Ziel des barriere- bzw. stufenfreien Ein- und
Ausstiegs in die Züge in vielen Fällen
für Jahrzehnte verhindert. Denn so lange
wird es auch noch Bahnsteige mit anderen
Höhen, insbesondere 0,55 Meter über Schienenoberkante,
geben.
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Leipzig Hauptbahnhof. Wäre hier die Bahnsteighöhe mit 0,55 Meter ausgeführt, wäre die gesetzlich geforderte Barrierefreiheit beim Talent 2 gegeben! Foto: Christian Schultz |
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Fürstenwalde (Spree). Auch die Ein- bzw. Ausstiegsverhältnisse bei Doppelstockwagen sind an Bahnsteigen mit 0,76 Metern unbefriedigend und behindern zudem in unnötiger Weise den Fahrgastwechsel. Foto: IGEB |
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Aber selbst wenn für sehr viel Geld eine
schnellere Vereinheitlichung auf 0,76 Meter
hohe Bahnsteige gelänge, wäre damit der
Einstieg z. B. in ICE-Züge keineswegs barrierefrei
bzw. ohne Hilfe Dritter möglich. Der
Einsatz eines fahrzeuggebundenen Hublifts,
so wie er derzeit bei den neuen ICE 4
realisiert wird, oder anderer Hilfsmittel wäre
weiterhin erforderlich!
Der niveaugleiche Fahrgasteinstieg ist ein
wesentlicher Baustein für den barrierefreien
Zugang zum Bahnsystem. In § 4 Behindertengleichstellungsgesetz
(BGG) wird gefordert,
dass die selbstständige Nutzung u. a.
der Bahn ohne fremde Hilfe möglich sein
muss. Ein niveaugleicher Einstieg ist dafür
wichtigste Voraussetzung, aber nur möglich,
wenn Bahnsteig- und Fahrzeughöhen zumindest
annähernd identisch sind und der
Spalt zwischen Bahnsteigkante und Fahrzeug
ein definiertes Maß nicht überschreitet.
In der Technischen Spezifikation für die
Interoperabiliät (TSI) „Zugänglichkeit für
Menschen mit Behinderung und Menschen
mit eingeschränkter Mobilität“ (PRM) wird
für einen niveaugleichen Einstieg Folgendes
gefordert: Der Spalt zwischen der Kante der
Türschwelle (oder des ausgefahrenen Schiebetritts)
dieser Türöffnung und dem Bahnsteig
beträgt horizontal nicht mehr als 75
mm und vertikal nicht mehr als 50 mm. Zwischen
Türschwelle und Fahrzeugvorraum ist
keine Stufe vorhanden.
Barrierefreiheit nutzt allen Fahrgästen
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Hannover Hauptbahnhof. Selbst bei ICE-Zügen ist mit der von Bundesverkehrsministerium und Deutscher Bahn favorisierten Bahnsteighöhe von 0,76 Metern ein barrierefreier Einstieg nicht möglich. Foto: Christian Schultz |
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Ein niveaugleicher Einstieg nutzt aber nicht
nur mobilitätseingeschränkten Fahrgästen:
Die stufenfreie Einstiegsmöglichkeit vom
Bahnsteig in das Fahrzeug trägt zu einem
bequemen und schnelleren Fahrgastwechsel
und damit zu einer kürzeren Haltezeit
bei bzw. erhöht die Leistungsfähigkeit des
Bahnsystems! Dies ist schwerpunktmäßig
für Ballungsraumverkehre von Bedeutung.
Diese Rahmenbedingungen wurden
seinerzeit im Gebiet der ehemaligen DDR
berücksichtigt, indem bei der Deutschen
Reichsbahn Doppelstockwagen mit Niederflureinstieg
eingesetzt und passend dazu
Bahnsteige mit einer Regelhöhe von 0,55
Metern eingeführt wurden. Auch die nach
der Wende beschafften Fahrzeuge (z. B.
Niederflur-Doppelstockwagen, Talent) sind für
diese Bahnsteighöhe optimiert.
Vor diesem Hintergrund ist das Festhalten
des Bundesverkehrsministeriums an einer
Regelhöhe der Bahnsteige von 0,76 Metern
unverständlich. Absurd bzw. inakzeptabel
sind darüber hinaus Mischformen von 0,76
Meter und 0,55 Meter hohen Bahnsteigen
an den Zugangsstellen einer Strecke bzw.
Linie, wie sie beispielsweise an der jüngst
in weiten Teilen sanierten Strecke
Berlin—Dresden realisiert wurden bzw. noch geplant
werden.
Bahnsteighöhen von 0,76 Metern behindern
zudem Transporte mit Lademaßüberschreitung
(LÜ-tief-Netz, z. B. bei Transporten
von Großtransformatoren) und sorgen
damit für vermeidbare infrastrukturelle
Zwangspunkte.
0,55 Meter muss Regelmaß werden
Der vom Bundesverkehrsministerium zu verantwortende
deutsche Irrweg muss endlich
beendet werden. Korrekturen am Konzept
für einheitlich 0,76 Meter hohe Bahnsteige
sind dringend erforderlich, nicht zuletzt
auch vor dem Hintergrund der demografischen
Entwicklung.
Folgendes Bahnsteighöhen-Konzept
wäre demgegenüber aus Fahrgastsicht umzusetzen:
- Bahnsteighöhe 0,38 Meter für Zugangsstellen,
z. B. von Regiotram-Systemen,
Schmalspurbahnen
- Bahnsteighöhe 0,55 Meter für Zugangsstellen
an sonstigen, normalspurigen
Strecken
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Am Bahnhof Rangsdorf ist in diesem Fall die Barrierefreiheit im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes durch 0,55 Meter hohe Bahnsteige und den ausfahrbaren Schiebetritt am Fahrzeug realisiert. Foto: Christian Schultz |
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Bahnhof Rangsdorf. Auch bei Doppelstockwagen ist ein stufenloser Einstieg an 0,55 Meter hohen Bahnsteigen möglich. Nicht vorhanden ist in diesem Fall allerdings ein ausfahrbarer Schiebetritt zur Spaltüberbrückung zwischen Fahrzeug und Bahnsteigkante. Foto: Christian Schultz |
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Das Maß 0,55 Meter ist als europäischer
Standard anerkannt und muss endlich als
Regel-Bahnsteighöhe bei Neu- und Umbauten
auch in Deutschland umgesetzt werden!
In vielen unserer Nachbarländer wird dies
bereits, wie oben beschrieben, konsequent
realisiert. Der Ein- bzw. Ausstieg in ICE-Züge
ist auch mit dieser Bahnsteighöhe gewährleistet.
Beispiele sind hierfür Coburg oder
Wien Hauptbahnhof.
Die technisch bedingte Notwendigkeit
von Einstiegshilfen, z. B. in Form von fahrzeuggebundenen
Hubliften bei ICE-Zügen,
ist dabei angesichts der deutlich geringeren
Fahrgastzahlen im Fernverkehr im Vergleich
zum Regionalverkehr ein akzeptabler Kompromiss.
0,76 Meter nur noch in Sonderfällen!
In Sonderfällen muss diese Bahnsteighöhe
allerdings bestehen bleiben, ggf. auch neu
errichtet werden. Dies betrifft Bahnhöfe, wo
beispielsweise S- und Regionalbahnzüge
am selben Bahnsteig halten müssen. Nur
mit unverhältnismäßig hohem Aufwand
bzw. letztlich nur sehr langfristig veränderbar
sind auch Sonderformen, wie z. B. auf
der Berliner Stadtbahn durch den Einbau
der „Festen Fahrbahn“ verursacht.
0,96 Meter für Stadtschnellbahnsysteme
Bei reinen S-Bahn-Netzen, z. B. in Berlin,
Hamburg, Stuttgart und München sollten
die Bahnsteige (weiterhin) 0,96 Meter hoch
sein.
DB wirbt mit barrierefreiem IC-Einstieg
bei 0,55-Meter-Bahnsteigen
Die Deutsche Bahn, die sich einerseits die
0,76-Meter-Vorgabe des Bundesverkehrsministeriums
zu eigen gemacht hat, widerspricht
sich andererseits mit ihrer eigenen
Werbung selbst.
Im Fall der neuen doppelstöckigen Intercity
2-Züge wird ausdrücklich mit der vollumfänglichen
Barrierefreiheit bzw. dem
niveaugleichen Ein- und Ausstieg bei einer
Bahnsteighöhe von 0,55 Metern geworben
(beschränkt allerdings ausschließlich auf die
Steuerwagen).
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Hannover Hauptbahnhof. Für Bahnkunden, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ist bei ICE-Zügen grundsätzlich z. B. eine fahrzeuggebundene Einstieghilfe und zusätzlich die Hilfe des Personals notwendig, um in das bzw. aus dem Fahrzeug zu gelangen. Foto: Christian Schultz |
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Mittels der Spaltüberbrückung bzw. des
ausfahrbaren Schiebetritts ist nämlich gewährleistet,
dass z. B. ein Rollstuhlfahrer
oder ein Fahrgast mit Rollator selbstständig,
also ohne fremde Hilfe (!), in den Zug hineinbzw.
wieder herauskommt. Umständliche
Ersatzlösungen mittels Rampen sind in diesem
Fall nicht erforderlich.
Aber auch für alle anderen Fahrgäste ist
diese Lösung ideal und sollte daher selbstverständliches
Ziel sein!
Umsetzung
Die Regelungen des §13 in der deutschen
Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung müssen
im Sinne des oben beschriebenen Konzeptes
umgehend geändert werden.
Eine sukzessive Umsetzung einer
Regel-Bahnsteighöhe von 0,55 Metern ist dabei
in vielen Fällen sogar ohne teure Um- und
Neubauten möglich. Die Lösung liegt im
Hochstopfen der Gleise, wie z. B. im Bahnhof
Kassel-Wilhelmshöhe an den Bahnsteiggleisen
7 bis 10 bereits realisiert, was allerdings
auch eine Höhenanpassung der Oberleitung
erfordert.
Deutscher Bahnkunden-Verband (DBV)
und
IGEB Fernverkehr
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