Jan Gympel

So gefährlich ist die Straßenbahn

Früher wurden gewisse Kreise nicht müde, darauf hinzuweisen, die Straßenbahn wäre ein Verkehrshindernis. Im Weltbild dieser Menschen wurden die zunehmenden Probleme in verstopften Straßen nicht etwa durch die in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg kräftig wachsenden Pkw-Zahlen verursacht, sondern durch die vergleichsweise wenigen Trams.

Radfahrer vor Straßenbahn
Wenn man so schön auf der linken Straßenseite geradelt ist, kann man doch auch noch eben bei Rot den Weg der Straßenbahn kreuzen, die sich gerade in voller Fahrt nähert. Hätte deren Lenker nicht noch rechtzeitig scharf bremsen können oder wäre der forsche Radler auf den Rillenschienen ins Schleudern gekommen, gestürzt und unter die Tram geraten, wäre vermutlich letztere als schuldig dargestellt worden statt zu erörtern, wie einzelne verantwortungslose Pedaltreter die Radfahrer ebenso in Verruf bringen wie sie es mit der Straßenbahn tun. Fotos: Jan Gympel

Heute ist die unbedingte Vorrangstellung für den motorisierten Individualverkehr, die zu diesem Denken gehörte, nicht mehr so problemlos zu propagieren – zu deutlich sind inzwischen die ökologischen, ökonomischen und gesundheitlichen Folgen der Kraftfahrzeugflut geworden. Die pathologischen Straßenbahnhasser haben daher einen neuen Schlachtruf ersonnen: Statt eines Verkehrshindernisses ist die Tram –die leistungsfähigste und neben dem Obus einzige verlässliche Vertreterin der vielbeschworenen Elektromobilität auf unseren Straßen – nun gemeingefährlich.

Im Zeitalter der „alternativen Fakten“ hat man dann natürlich auch gleich allerlei Zahlen zur Hand, denen zufolge bei Straßenbahnen die Unfallgefahr mit Personenschäden bis hin zum Tod besonders hoch wäre. So stellte der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) 2016 eine Studie vor, die zu Ergebnissen wie diesem kam: „Bezogen auf die Fahrleistung sind Unfälle mit Straßenbahnen achtmal so schwer wie Unfälle mit Pkw, bezogen auf die Beförderungsleistung allerdings nur ein Fünftel so schwer. Wird jedoch nur die Anzahl der Getöteten betrachtet, dann ist die Straßenbahn auch hinsichtlich Beförderungsleistung nicht besser als der Pkw und hinsichtlich Fahrleistung sogar 35-mal unsicherer.“ Daraus wurden dann Pressemeldungen über das „Unfallrisiko Straßenbahn“ (siehe SIGNAL 2/2017).

„Völlig überraschend“ wurde und wird dabei gern vergessen zu erwähnen, dass die Gefahr praktisch nicht für die Fahrgäste der Straßenbahn existiert, sondern fast nur für Personen, die der Straßenbahn in die Quere kommen. Und „erstaunlicherweise“ schenkt man auch keinerlei Beachtung der Frage, wer die schweren Unfälle mit schlimmen Folgen eigentlich verursacht hat.

Radfahrer vor Straßenbahn
Die Unfähigkeit, ein großes, langes, strahlend weiß und leuchtend gelb lackiertes Schienenfahrzeug, welches auf einen zukommt, wahrzunehmen, ist noch lange kein Grund, nicht am Straßenverkehr teilzunehmen (oder zumindest belebte, etwas unübersichtliche Kreuzungen zu meiden). Diese wackere Radlerin rollte jedenfalls schnurstracks auf eine Kollision mit dem Zug zu – bis sie sich nach mehrmaligem Warnsignal doch zu einem Stopp bewegen ließ (wobei sich ihr Vorderrad schon fast im Lichtraumprofil der Tram befand). Fotos: Jan Gympel

Unsere Bilder zeigen zwei Fastunfälle mit Radfahrern, zwei zufällig eingefangene Ereignisse, die aber, wie man aus Gesprächen mit Straßenbahnlenkern erfährt, leider keineswegs Seltenheitswert besitzen und auch ergänzt werden könnten durch Berichte von ähnlichen Erlebnissen mit unaufmerksamen Autofahrern oder Fußgängern.

Angesichts dieser Aufnahmen erübrigt sich wohl, daran zu erinnern, dass die Fähigkeit zur Benutzung eines Fahrrades im Straßenverkehr nicht nachgewiesen werden muss. Ebenso wenig wie die Fähigkeit, das Verkehrsgeschehen im Blick zu behalten, ein großes, langes, strahlend weiß und leuchtend gelb lackiertes Schienenfahrzeug, welches sich einem nähert, wahrzunehmen oder zu begreifen, dass dieses nicht ausweichen kann, andererseits aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nur den durch die Gleise vorgegebenen Weg nehmen wird.

So sicher wie letzteres wäre im Übrigen auch das übliche Wehklagen über die gefährlichen Straßenbahnen gewesen, hätte die einzig und allein durch die Radfahrer verursachte Kollision in diesen beiden Fällen nicht gerade noch durch die schnelle Reaktion der Triebfahrzeugführer verhindert werden können.

Und mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre in den Medien dann von einem „Straßenbahnunfall“ die Rede gewesen, wie ja auch Autos oder Fußgänger, die auf (sogar beschrankten) Bahnübergängen von einem Schienenfahrzeug erfasst werden, meist als Opfer eines „Zugunglücks“ gelten.

Deshalb: Wenn Ihnen wieder mal jemand etwas von der Gefährlichkeit der Straßenbahn erzählt – zeigen Sie ihm diese Bilder.

Jan Gympel

aus SIGNAL 4/2018 (November 2018), Seite 18-19

 

Die Jahrgänge



Die SIGNAL-Jahrgänge in der Übersicht:

» 2023
» 2022
» 2021
» 2020
» 2019
» 2018
» 2017
» 2016
» 2015
» 2014
» 2013
» 2012
» 2011
» 2010
» 2009
» 2008
» 2007
» 2006
» 2005
» 2004
» 2003
» 2002
» 2001
» 2000
» 1999
» 1998
» 1997
» 1996
» 1995
» 1994
» 1993
» 1992
» 1991
» 1990
» 1989
1988
1987
1986
1985
1984
1983
1982
» 1981
» 1980
ANZEIGE

aktuelles Heft

TitelbildSeptember 2023

komplettes Heft »

Die Themen der aktuellen Ausgabe 03/2023:

» Straßenbahneröffnung zum U-Bf. Turmstraße
» M4: Zwei Jahre „Bau”-Fahrplan
» Perlen vor die Schnüre: Gute Linienperlschnüre leicht verständlich gestalten
» Zugausfall bei einem Rail&Fly-Ticket
» Deutschlandticket – das Sommermärchen muss fortgeführt und weiterentwickelt werden
» Drei Thesen zum Deutschlandticket



neu hier?
Links lesen Sie einen Artikel aus dem Internetarchiv der Fachzeitschrift Signal, die sich mit Verkehrspolitik für Berlin und Deutschland auseinandersetzt.

Auf signalarchiv.de finden Sie zusätzlich zu ausgewählten Artikeln aus dem aktuellen Heft auch viele ältere Artikel dieser Zeitschrift.





Kontakt - Abo - Werbung - Datenschutz - Impressum
Herausgeber: Interessengemeinschaft Eisenbahn, Nahverkehr und Fahrgastbelange Berlin e.V.
  © GVE-Verlag / signalarchiv.de / holger mertens 2008-2013 - alle Rechte vorbehalten