|
So soll die Straßenbahnhaltestelle am U-Bf Turmstraße aussehen. Grafik: Ing.-Büro Dipl.-Ing. H. Vössing GmbH |
|
Kurz vor Ende der Legislaturperiode setzt
der Senat von Berlin zu einem verkehrspolitischen
Schlussspurt an: Nach dem
Planfeststellungsbeschluss vom 7. Februar
2020 für die neue Strecke „Adlershof II“ von
Adlershof nach Schöneweide (siehe SIGNAL
6/2019 – 1/2020) werden nun die Weichen
für das zweite Neubauvorhaben für die Straßenbahn
gestellt: die Tram vom Hauptbahnhof
zum U-Bahnhof Turmstraße. Der Berliner
Fahrgastverband verwendet hier bewusst
die Bezeichnung „Turmstraße I“, denn eine
Verlängerung dieser Strecke nach Westen
(„Turmstraße II“) ist nicht nur dringend nötig,
sondern endlich auch beschlossen (siehe
Link am Ende des Artikels).
Auch wenn die Freude über den Fortschritt
groß ist, kann die IGEB auf Kritik an
der Planung nicht verzichten. Im Planfeststellungsverfahren
(PFV) war aufgrund von
Änderungen (bei der ersten Auslegung war
„versehentlich“ ein altes Schallgutachten als
Anlage beigefügt worden, das noch vom
10-Minuten-Takt ausging, obwohl schon mit
dem 5-Minuten-Takt geplant wurde) eine
zweite Auslegung erforderlich, aber Senat
und BVG nutzten diese Chance leider nicht,
um die von uns aufgezeigten Planungsmängel
zu beheben (siehe SIGNAL 5/2019).
Wichtigster Kritikpunkt bleibt die Absicht,
die Straßenbahnen dieser bedeutenden
Strecke in den Autostau zu stellen. Zur Erinnerung:
Vereinigungen aller Art wie der
Weltklimarat IPCC oder Fridays for Future
mahnen eine Verkehrswende an, und sogar
die offiziell verkündete Senatspolitik
möchte den Autoverkehr in der Innenstadt
reduzieren, aber die Pläne für die westliche
Invalidenstraße sehen einen Entfall der heute
vorhandenen Busspur und damit eine Verdoppelung
der Autofahrstreifen vor – und
mittendrin sollen dann die Tramgleise liegen!
Insbesondere wenn man weiß, dass es
sich hier um die Zufahrt zum Hauptbahnhof
und zur im Bau befindlichen „Europacity“
handelt mit entsprechendem Fahrgastpotenzial,
dann liegt der Gedanke an eine bewusste
Sabotage der offiziellen Senatsziele
nahe.
Leichtgläubige Menschen könnten meinen,
dass dieser Teil der Strecke ja nur einen
kleinen Teil der Gesamtlänge ausmacht,
aber ihnen sei gesagt: Geht hin und seht
mit eigenen Augen, was das auf der schon
vorhandenen Strecke in der Invalidenstraße
bedeutet, auf dem
genauso falsch trassierten
Neubauabschnitt
westlich der
Chausseestraße
zum Hauptbahnhof.
Auch dort ist
der Anteil an der
gesamten Länge
der betroffenen
Linien nur klein,
aber der Anteil an
den eingefangenen
Verspätungen
umso größer.
Schließlich ist
die Invalidenstraße
nicht irgendeine
Straße, sondern
ein Teil des inneren
Innenstadtrings für
den Kraftfahrzeugverkehr, also mit geplant
hoher Verkehrsdichte. Außerdem wurden
die Zufahrten zum Tiergartentunnel bewusst
genau an diese Straße und damit
auch an den Hauptbahnhof gelegt. Es werden
also Autofahrer aus Richtung Westen
auf diese Straße „gelockt“, die gar nicht zum
Hauptbahnhof oder zur „Europacity“ wollen.
|
Die erst 6 Jahre alte Straßenbahnhaltestelle Lesser-Ury-Weg in der Invalidenstraße ist nicht barrierefrei. Das wird mit der Streckenverlängerung nicht verändert. Foto: Florian Müller |
|
In der Mitte dieses problematischen Abschnitts
befindet sich schon heute die Haltestelle
Lesser-Ury-Weg, die allerdings zurzeit
wegen ihrer Lage in der Wendeschleife
von der Straßenbahn nur in eine Richtung
bedient wird. Diese Haltestelle war die letzte,
die nicht barrierefrei neu gebaut wurde,
und auch sonst erfüllte sie schon bei ihrer
Eröffnung vor 6 Jahren nicht die erwartbaren
und in der Hauptstadt sicher auch
möglichen Standards. Mit ihrer Lage in Straßenmitte
ohne geschützten Raum für den
Fahrgastwechsel auf der oben beschriebenen,
stark befahrenen Hauptstraße stellt sie
für alle Nutzer und damit für den Verkehr
auf dieser Straße insgesamt eine ständige
Gefahrenquelle dar. Nach Änderung der Gesetzeslage
müssen ab dem Jahr 2023 nicht
nur alle neuen Haltestellen barrierefrei sein,
sondern auch die schon vorhandenen nachgebessert
werden. Ausnahmen sind zwar
im Einzelfall zulässig, müssen aber sachlich
begründet sein.
Der Berliner Fahrgastverband IGEB forderte
daher sowohl beim PFV für die vorhandene
Schleife als auch beim PFV für die
Neubaustrecke „Turmstraße I“ eine Verbesserung
dieser Situation – leider vergeblich.
Da das geplante Gleis Richtung Osten
das vorhandene Gleis der Wendeschleife
kreuzen muss, wird die Bestandsstrecke
sowieso gesperrt werden müssen, und im
Schatten dieser Maßnahme drängt sich eine
Anpassung der Haltestelle an die neue Gesetzeslage
geradezu auf. Immerhin wären
bei der gleichzeitigen Erledigung beider
Aufgaben nicht nur die Baukosten, sondern
auch die Planungs- und Verwaltungskosten
in vertretbarem Rahmen geblieben. Ein
nachträglicher separater Umbau an dieser
Stelle hätte schon allein zur Sperrung dieser
übergeordneten Straße einen enormen
Verwaltungsaufwand zur Folge und wäre
wegen des dann nötigen Schienenersatzverkehrs
für die neue Tram zur Turmstraße
auch wesentlich teurer (ganz zu schweigen
von den zusätzlichen Minuspunkten für die
BVG im öffentlichen Ansehen).
Die IGEB hält daher an ihren seit Jahren
erhobenen Forderungen fest.
Erstens: Die Straßenbahn Richtung Osten
muss vom Beginn der Invalidenstraße bis
zum Hauptbahnhof einen eigenen Bahnkörper
bekommen, der bis zur Kreuzung
Lehrter Straße als ÖPNV-Kombispur für Bus
und Tram gestaltet werden sollte.
Zweitens: Die schon vorhandene Haltestelle
Lesser-Ury-Weg Richtung Westen sollte
im Rahmen dieser Baumaßnahme barrierefrei
umgestaltet werden und eine sichere
Erreichbarkeit der Bahnen trotz des starken
Autoverkehrs ermöglichen. Ganz sicher wird
sich das Fahrgastaufkommen an dieser Stelle
deutlich erhöhen, denn die neue Straßenbahn
ergänzt hier ja den schon heute gut
genutzten 245er Bus.
Drittens: Der Multikreuzungsbereich Invalidenstraße/
Lehrter Straße/Tiergartentunnel
muss funktionierende Vorrangschaltungen
für den ÖPNV bekommen. Dies ist in
Berlin leider alles andere als selbstverständlich.
Trotz der oben beschriebenen Mängel
der Senatsplanung freuen sich die Fahrgäste
dieser Stadt über den bevorstehenden
Baustart, auch wenn dieser durch erneute
Verzögerung des Planfeststellungsbeschlusses,
dieses Mal als Folge der Corona-
Pandemie, wohl erst 2021 erfolgen kann.
Mit der Verlängerung der M 10 nach Westen
wird diese Strecke eine der Hauptachsen
der neuen Straßenbahn für ganz Berlin
werden, und wir können schon hier und
heute voraussagen, dass sie schon nach
kurzer Zeit unverzichtbar sein wird, quasi
systemrelevant! (af)
IGEB Stadtverkehr
|