S-Bahn-Chaos

Berliner S-Bahn stürzt ins Chaos

„Schon am Tiefpunkt? Die Berliner S-Bahn in der Krise“ lautete die Überschrift in SIGNAL 3/2009, geschrieben im Juni. Das Fragezeichen erwies sich leider als berechtigt. Im Juli 2009 stürzte das Unternehmen in ein Chaos, wie es die S-Bahn-Fahrgäste seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt hatten.

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S-Bf. Gesundbrunnen. In den ersten Juli-Tagen ahnten viele Fahrgäste noch nicht das Ausmaß des Chaos und warteten lange auf eine S-Bahn. Aber schon bald suchten sie sich andere Wege. Fotos: Marc Heller
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Fahrplan für den Ersatzverkehr am S-Bf. Tiergarten. Da hier und am S-Bf. Bellevue keine Regionalzüge halten können, wurden diese Stationen mit Bussen angefahren. Die S-Bahn hatte größte Mühe, für die Restverkehre der S-Bahn und die Ersatzverkehre stets aktuelle Fahrpläne zu hängen.
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Mit markigen Sprüchen artikulierte die Boulevardpresse den Ärger der Fahrgäste. Für die Berliner Medien fiel das Sommerloch 2009 aus, weil die S-Bahn ständig neue (Negativ-) Schlagzeilen lieferte. Abb: Berliner Kurier vom 1. Juli 2009
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Da die planmäßigen Regionalzüge auf der Stadtbahn die Fahrgäste der S-Bahn nicht aufnehmen konnten, wurden zwischen Ostbahnhof und Potsdam Hbf zusätzlich Züge mit Doppelstockwagen von der Strecke Hamburg — Lübeck und aus Rostock eingesetzt. Fotos: Marc Heller und Florian Müller
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Zug der Heidekrautbahn (NE 27) im Bf. Gesundbrunnen. Die Niederbarnimer Eisenbahn (Veolia) fuhr mit einzelnen Umläufen nicht zum Bahnhof Karow, sondern nach Gesundbrunnen. Viele Fahrgäste wünschen sich das schon lange als Dauerzustand. Foto: Marc Heller
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Im Sommer 2009 musste ein großer Teil des Fahrzeugparks der Berliner S-Bahn in die Werkstatt, so dass auf vielen Linien der Verkehr reduziert oder gar eingestellt werden musste. Für die Ersatzverkehre holte die Deutsche Bahn Fahrzeuge aus ganz Deutschland nach Berlin, darunter zahlreiche Busse aus Nordrhein-Westfalen. Fotos: Marc Heller
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S-Bahn-Züge aus München und Stuttgart pendelten vom 20. Juli bis 2. August zwischen Gesundbrunnen und Südkreuz durch den Fernbahntunnel und erschlossen den vom S-Bahn-Netz abgekoppelten Berliner Hauptbahnhof.
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Ab dem 13. Juli fuhren zwischen Potsdam Hbf und Berlin Ostbahnhof lokbespannte Regionalzüge als sogenannte S-Bahn-Ergänzungszüge, zunächst nur mit Doppelstockwagen, später auch mit diesen X-Wagen aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet.

Ein erhöhter Wartungsaufwand als Folge des Radbruchs am 1. Mai in Kaulsdorf hatte bereits im Juni zu verkürzten Zügen und Zugausfällen geführt. Doch die Lage war viel dramatischer, als die Öffentlichkeit ahnte. Die S-Bahn setzte immer mehr Wagen ein, bei denen die Wartungsfristen insbesondere an den Achsen und Rädern nicht eingehalten worden waren.

Als das Eisenbahn-Bundesamt bei Kontrollen Ende Juni diese Missstände entdeckte und zugleich feststellen musste, dass Zusagen der S-Bahn-Geschäftsführung gegenüber dem Eisenbahn-Bundesamt nicht eingehalten wurden, war die Stilllegung der meisten Fahrzeuge der Baureihe 481 unvermeidlich. Da von den 1260 Wagen genau 1000 zu dieser jüngsten Baureihe gehören, war das Chaos im S-Bahn-Betrieb vorprogrammiert.

Gravierender aber war der Vertrauensverlust. Natürlich fühlte sich das Eisenbahn- Bundesamt getäuscht und belogen, was sicherlich noch Jahre nachwirken und den S-Bahn-Betrieb erschweren wird. Vor allem aber waren Fahrgäste und Politiker entsetzt, dass für die S-Bahn-Geschäftsführung entgegen allen Beteuerungen die Sicherheit ihrer Kunden nicht oberstes Gebot war.

Diese Fakten, ergänzt um peinliche öffentliche Auftritte des S-Bahn-Geschäftsführers Tobias Heinemann, ließen der Deutschen Bahn keine andere Wahl, als sich am 2. Juli von der gesamten vierköpfigen Geschäftsführung zu trennen. Befremdet hat allerdings, dass der Geschäftsführer Produktion, Peter Büsing, nach nur einem Monat gehen musste, während sein zur DB-Regio-Zentrale in Frankfurt am Main gewechselter Vorgänger Ulrich Thon verschont blieb, obwohl er maßgeblich für die technischen Missstände bei der Berliner S-Bahn verantwortlich war.

Hoffnung auf neue Geschäftsführung

Nachfolger von Tobias Heinemann als Vorsitzender der Geschäftsführung wurde Peter Buchner, in Berlin und Brandenburg gut bekannt als langjähriger Geschäftsführer von DB Regio Nordost mit Sitz in Potsdam.

Bezüglich der Ursache des Radbruchs vertritt natürlich auch er die offizielle Linie der Deutschen Bahn, die da lautet: Der Hersteller Bombardier hat bei der Baureihe 481 nicht dauerfeste Räder geliefert. Der Radbruch ist also ein Herstellungsmangel. Dass Experten wie Prof. Dr.-Ing. Markus Hecht, Fachmann für Schienenfahrzeuge an der TU Berlin, auch andere Ursachen für denkbar halten, für die möglicherweise die S-Bahn selbst verantwortlich ist, wird ggf. erst gerichtlich geklärt werden. Derzeit ist allerdings nicht erkennbar, dass die DB den Hersteller verklagen wird.

Aus Fahrgastsicht sehr erfreulich ist, dass der neue S-Bahn-Chef nicht nur den gesamten Prozess der Fahrzeugwartung bei der S-Bahn auf den Stand bringen will, wie er bei anderen DB-Töchtern längst erreicht ist, sondern dass er den Kundenservice der S-Bahn in weiten Teilen unumwunden als unzureichend einschätzt und Verbesserungen verspricht.

So versucht er gar nicht erst, die von den Herren Heinemann und Thon zu verantwortende Reduzierung vieler Zugzielanzeiger auf Blechschilder zu rechtfertigen, sondern hält dynamische Zugzielanzeiger und zusätzlich eine Beschallung für unabdingbar. Einschränkungen macht er lediglich bei S-Bahnhöfen, von denen aus nur ein Zielbahnhof angefahren wird. Hier genügten LED-Anzeiger, die nur im Verspätungsfall aktiviert werden. Demgegenüber sind die vielen wechselnden Betriebszustände in den letzten Monaten durch das Chaos und in den nächsten Jahren durch Bauarbeiten für die IGEB Grund genug, an der Forderung nach dynamischen Zugzielanzeigern auf allen S-Bahnhöfen festzuhalten. Den S-Bahn-Kunden muss derselbe Standard geboten werden, wie er bei der Berliner U-Bahn seit Jahren üblich ist.

Entschädigung großzügig regeln

Beim Bemühen der S-Bahn, dass Vertrauen ihrer Kunden zurückzugewinnen, hat sich die Entschädigung zu einer Schlüsselfrage entwickelt. Als das Chaos bei der S-Bahn Anfang Juli immer größere Ausmaße annahm, versuchte die Deutsche Bahn einen Befreiungsschlag und versprach eine Entschädigung auf Kulanzbasis. In einer Pressemitteilung vom 9. Juli hieß es:

DB-Personenverkehrsvorstand Homburg kündigte außerdem freiwillige Kompensationsleistungen für Stammkunden an: „Abo- und Jahreskarteninhaber, die für die Tarifbereiche Berlin A, B oder C im Dezember noch entsprechende Karten besitzen, erhalten im Dezember einen Monat freie Fahrt.“ Diese Regelung gelte für die VBB-Umweltkarte, Auszubildende/Schüler und Geschwisterkarten sowie Abo65plus-Nutzer und Firmenticketinhaber. Damit erhalten Fahrgäste eine Kompensation, die sich langfristig an die öffentlichen Verkehrsmittel gebunden haben und nicht mit der Angebotsminderung rechnen konnten. Die Entschädigung ist unabhängig vom jeweiligen VBB-Verkehrsunternehmen, bei dem der Fahrgast Kunde ist.

Man hätte sich natürlich auch andere Formen von Entschädigungsregelungen vorstellen können, zum Beispiel an allen Wochenenden 2010 freie Fahrt in Brandenburg für Fahrgäste mit Berliner Zeitkarten oder Ähnliches, aber nach der Ankündigung vom 9. Juli gibt es kein zurück.

Der Berliner Fahrgastverband IGEB hält es zwar für richtig, sich bei der Entschädigung auf die Stammkunden zu konzentrieren, aber hierbei darf niemand vergessen werden. Für eine Kulanzregelung gilt: im Zweifel für den Betroffenen. Doch hier hat die Deutsche Bahn einen großen Fehler gemacht. Um die Kosten der Entschädigungsaktion zu begrenzen, hat sie eine große Gruppe von Stammkunden mit falschen und peinlichen Begründungen von der Regelung ausgenommen: Die Studierenden mit ihren Semestertickets.

Nachdem die DB mehrfach gefragt wurde, warum diese Stammkunden nicht entschädigt werden sollen, hat Ulrich Homburg am 7. August die Begründung für die Ungleichbehandlung der Stammkunden nachgereicht. Das Semesterticket sei bereits stark rabattiert und die drastischen Einschränkungen des S-Bahn-Verkehrs seien in die Ferienzeit gefallen. Beide Argumente sind falsch:

  • Beim Semesterticket handelt es sich keineswegs um eine rabattierte oder gar subventionierte Karte. Der günstige Preis entsteht dadurch, dass alle Studierenden das Ticket kaufen müssen, auch wenn sie es vielleicht nur selten oder nie nutzen. Außerdem müssen sie es für alle Monate kaufen, auch für die Semesterferien.
  • Schul- und Semesterferien begannen 2009 beide Mitte Juli, also zwei Wochen nach Beginn der ersten S-Bahn-Notfahrpläne. Doch während die Schülerinnen und Schüler sich in den letzten Tagen vor den Sommerferien nicht mehr besonders anstrengen müssen und ab Ferienbeginn wirklich frei haben, sind die letzten Tage an den Universitäten geprägt durch Abgabetermine, Abschlusspräsentationen und Prüfungen aller Art. Außerdem sind auch nach Beginn der Semesterferien, korrekt: nach Beginn der vorlesungsfreien Zeit vielfach noch Veranstaltungen oder Intensivkurse zu besuchen und vor allem Prüfungen zu bewältigen.

Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert deshalb die Deutsche Bahn auf, die Diskriminierung der Studierenden als „Stammkunden zweiter Klasse“ zu beenden und sie in gleicher Weise wie die Schüler und alle anderen Stammkunden zu entschädigen.

Nachwirkungen

Auf den ersten Blick hatte das S-Bahn-Chaos für BVG, DB Regio und die privaten Bahnunternehmen viele schöne Seiten. Sie standen als „die Guten“ da, die die von der S-Bahn im Stich gelassenen Fahrgäste transportierten und für ihre zusätzlichen Verkehrsleistungen auch noch Bestellgelder bekommen. Vor allem im Zeitraum vom 20. Juli bis 2. August, als die S-Bahn nur noch rund ein Viertel ihres Fahrzeugparks einsetzen konnte, waren die anderen Unternehmen gefordert und konnten viele zusätzliche Fahrgäste gewinnen. Und auch der Verkehrsverbund konnte sich in den Chaoswochen profilieren, denn niemand informierte so schnell und umfassend über die aktuelle Verkehrssituation in Berlin und Umland wie der VBB.

Dennoch hat die S-Bahn nicht nur sich, sondern dem öffentlichen Verkehr insgesamt geschadet. Viele der hunderttausende Fahrgäste, die die S-Bahn in diesem Sommer mieden, wechselten nicht zu einem anderen Bahn- oder Busunternehmen, sondern auf Auto oder Fahrrad oder sie verzichteten ganz auf eine Fahrt.

Nachwirkungen wird der Fahrzeugmangel auch noch auf den Winterfahrplan der S-Bahn haben. Zwar soll bis zum Dezember nach und nach wieder der Regelfahrplan gefahren werden, aber die früheren Zuglängen werden sicher noch nicht erreicht werden. Sitzplätze und Plätze für Fahrräder, Kinderwagen und Rollstühle werden also noch länger knapp bleiben.

Wie angespannt die Situation ist, sieht man daran, dass die S-Bahn den zum 31. August vom Land Brandenburg bestellten 10-Minuten- Takt nach Teltow (vgl. SIGNAL 3/2009) auf absehbare Zeit noch nicht fahren kann.

Berliner Fahrgastverband IGEB

aus SIGNAL 4/2009 (September 2009), Seite 5-7, 32

 

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