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Berlin—Usedom in 2 Stunden
Wiederaufbau der Bahnstrecke über Karnin endlich beginnen!

2008 war vom Münchner Beratungsunternehmen Intraplan eine Studie zur Reaktivierung der Eisenbahnverbindung Ducherow—Karnin—Świnoujście (Swinemünde) erstellt worden. Errechnet wurde dabei ein Nutzen-Kosten-Verhältnis (NKV) von lediglich 0,73, wobei allerdings ausschließlich der Personenverkehr berücksichtigt wurde. Eine weitere Studie der DB International GmbH von 2010 kommt nunmehr bei Berücksichtigung des Güterverkehrs zu einem NKV über 1, womit eine Wirtschaftlichkeit dieses Projekts gegeben ist. Zur politischen Unterstützung wurde zwischenzeitlich das „Aktionsbündnis Karniner Brücke“ gegründet.

Karte UBB
Der Wiederaufbau der EisenbahnstreckeDucherow—Karnin—Świnoujście (Swinemünde) ermöglicht deutliche Fahrzeitverkürzungen in der Relation Berlin—Usedom. Zur Firma Baltchem kann ein Güteranschlussgleis gebaut werden. Karte: UBB, Bearbeitung: IGEB (fm)

Die Ostseeinsel Usedom war von 1876 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs über eine zunächst eingleisige Eisenbahnstrecke mit dem Festland verbunden. Diese Strecke zweigte im Bahnhof Ducherow von der Hauptstrecke Berlin—Stralsund ab und endete anfangs in Swinemünde. Der zweigleisige Ausbau war 1908 abgeschlossen. Die Verlängerungen über Swinemünde hinaus erfolgten 1894 bis Seebad Heringsdorf und 1911 schließlich bis Wolgaster Fähre.

Die Gleise der Strecke Ducherow—Swinemünde— Seebad Ahlbeck wurden nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge der neuen deutsch-polnischen Grenze zwischen 1946 und 1948 schrittweise demontiert. Der Wiederaufbau dieser Bahnstrecke hat jedoch nach wie vor u. a. für die Region Berlin/Brandenburg große Bedeutung, ist sie doch die kürzeste und schnellste Bahnverbindung an die Ostsee.

Die seit dem 28. Mai 2000 auch vom Bahnverkehr genutzte Peenebrücke Wolgast hat bezüglich der Fahrzeit Berlin—Usedom lediglich Teilerfolge gebracht. Die derzeit überlangen Fahrzeiten zwischen Berlin und den „Kaiserbädern“ Usedoms könnten erst durch den Entfall des Umwegs über Züssow auf rund 2 Stunden halbiert werden.

Eine derartige Fahrzeit wäre endlich auch eine konkurrenzfähige Alternative zum Auto; dies gilt erst recht wegen der seit Inbetriebnahme der Autobahn A20 erreichten Fahrzeitverkürzungen im Straßenverkehr. Von einer Entlastung vom Pkw-Verkehr bzw. der Straßen würde die Urlaubsinsel Usedom – gerade in den Sommermonaten – erheblich profitieren. Einheimische wie Gäste leiden heute unter den wachsenden Pkw-Strömen speziell in engen Ortsdurchfahrten. Kurze, aber wichtige Teilabschnitte der Eisenbahnstrecke Ducherow—Świnoujście—Seebad Ahlbeck wurden mit Inbetriebnahme des 2,4 km langen Abschnitts Seebad Ahlbeck—Ahlbeck Grenze am 8. Juni 1997 und des 1,4 km langen Abschnitts Ahlbeck Grenze—Świnoujście Centrum am 20. September 2008 inzwischen realisiert. (siehe SIGNAL 5/2008)

Im Bundesverkehrswegeplan 2003 wurde diese Strecke im Abschnitt „Bau leistungsfähiger Verkehrswege in den neuen Bundesländern“ aufgenommen. Projekte, die im Ergebnis der Nutzen-Kosten-Analyse aber ein NKV unter 1 aufweisen, werden bei der Umsetzung weder im vordringlichen Bedarf noch im weiteren Bedarf berücksichtigt. Sinnvollerweise muss aber auch das Potenzial des Güterverkehrs von/zum Hafen Świnoujście (Seehafenhinterlandverkehre) bei der Wirtschaftlichkeitsberechnung berücksichtigt werden. Denn der Personenverkehr allein – so zumindest das Ergebnis der Intraplan-Studie mit einem NKV von 0,73 – ermöglicht den Wiederaufbau der Strecke Ducherow—Karnin— Świnoujście noch nicht.

Neues Gutachten belegt die Wirtschaftlichkeit

Der Seehafenhinterlandverkehr wird vom Hafen Świnoujście derzeit generell über die Wolliner Seite, also die Ostseite des Hafens abgewickelt. Umgeschlagen wird vor allem Massengut wie Kohle, Eisenerz, Getreide und Holz. Auf der Usedomer Seite befindet sich aber bereits heute ein Kraftstoffterminal des Unternehmens Baltchem, das beispielsweise als Kunde für einen Schienengütertransport infrage kommt. Daneben bietet die Westseite erhebliche Flächen als Reserven für den künftigen Hafenausbau. Der Anschluss des Tanklagers an die Strecke Ducherow—Świnoujście wäre mittels einer kurzen Stichstrecke möglich.

Karnimer Brücke
Karniner Brücke. Der Wiederaufbau der Strecke Ducherow—Świnoujście (Swinemünde) ermöglicht auch eine verbesserte Erschließung von Usedom. Orte wie Karnin, Usedom und auch der Flughafen Heringsdorf (Garz) würden künftig direkt mit der Bahn erreichbar sein. Foto: Christian Schultz

In Abhängigkeit vom Ausbau der Hafenanlagen auf der Westseite wurde vom Gutachter DB International für vier Szenarien ein Nutzen- Kosten-Verhältnis unter Berücksichtigung des Güterverkehrs von 2,6, 4,17, 5,56 und sogar 9,62 ermittelt! Der Grenzwert, an dem das NKV den Wert von 1 übersteigt, liegt bei etwa 84 000 t/Jahr für den Güterverkehr. Szenario 1 mit einem NKV von 2,6 berücksichtigt dabei lediglich den Anschluss des Terminals von Baltchem. Das Beförderungsvolumen dürfte hier bei voraussichtlich 48 000 t/Monat liegen.

Dass auch im Personenverkehr noch ein erhebliches Potenzial besteht, zeigt die Erfolgsgeschichte der Usedomer Bäderbahn (UBB) seit Übernahme der Inselbahn am 1. Juni 1995. Anfang der 1990er Jahre sollte der Bahnbetrieb auf Usedom komplett eingestellt werden. So nutzten im Jahr 1992 nur noch knapp 300 000 Fahrgäste die Züge, inzwischen sind es pro Jahr weit über 3 Millionen!

Wiederaufbau der Eisenbahnstrecke finanzierbar

Sowohl im Gutachten von Intraplan als auch von DB International wurde zugrundegelegt, dass die Strecke Ducherow—Karnin— Świnoujście als eingleisige Strecke wiederaufgebaut und auch elektrifiziert wird. Das Investitionsvolumen einschließlich der Planungskosten wurde seitens Intraplan mit rund 140 Mio. Euro für die rund 40 km lange Strecke errechnet. Die Anbindung des Westhafens von Świnoujście wurde von DB International mit 6,8 Mio. Euro ermittelt.

Swinemünde Hbf
Empfangsgebäude Swinemünde Hbf. Mit Ausnahme des Stadtgebietes von Świnoujście kann die alte Bahntrasse wieder genutzt werden. Die heutige Bebauung lässt die Nutzung des ehemaligen Hauptbahnhofes von Swinemünde leider nicht mehr zu. Foto: Christian Schultz

Angesichts dieser Beträge ist die Haltung des Bundes unverständlich, der für dieses Projekt bislang offensichtlich keine Finanzierungsmöglichkeiten sieht. Ein Projekt, das vielen Einwohnern, Besuchern und Güterkunden von Świnoujście bzw. Usedom insgesamt einen erheblichen Nutzen bringt und noch dazu eine nachhaltige Tourismusentwicklung ermöglicht, soll in ferne Zukunft mit unbekanntem Realisierungstermin verschoben werden. Das Argument fehlender Finanzierungsmöglichkeiten ist unglaubwürdig, wenn für ein Prestigeprojekt wie „Stuttgart 21“ – mit sehr zweifelhaftem Nutzen – mindestens 4,5 Milliarden Euro aufgebracht bzw. eine entsprechende Finanzierungsvereinbarung abgeschlossen werden. Unverständlich sind in diesem Zusammenhang auch die Planungen des Bundes, die Deutsche Bahn ab 2011 zu verpflichten, eine „Bahndividende“ in einer Höhe von 500 Mio. Euro zu zahlen. Wenn der DB schon ein solcher Betrag entzogen wird, so wäre es verkehrspolitisch folgerichtig, diese Finanzmittel zweckgebunden für den Ausbau der Schieneninfrastruktur einzusetzen.

Eine Finanzierung des Wiederaufbaus der Eisenbahnstrecke Ducherow–Karnin– Świnoujście ist also durchaus realisierbar, und zwar unabhängig von der Frage, inwieweit das Projekt mit EU-Mitteln teilfinanziert würde. Nicht fehlendes Geld, sondern Desinteresse an dem Projekt dürfte die aktuelle Haltung des Bundes wohl treffender beschreiben, was im Übrigen auch für alle anderen deutschpolnischen Bahnprojekte gilt.

„Aktionsbündnis Karniner Brücke“ gegründet

Das „Aktionsbündnis Karniner Brücke“ verfolgt das Ziel der Wiedererrichtung der Eisenbahnverbindung Ducherow–Karnin– Świnoujście und wurde am 9. April 2010 in Berlin im Beisein der Europastaatssekretärin des Landes Berlin, Frau Monika Helbig, gegründet. 51 Personen aus Polen, Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, die insgesamt 17 Organisationen und Institutionen aus Wirtschaft und Politik vertreten, unterzeichneten das Gründungsdokument. Auch der Berliner Fahrgastverband IGEB und der DBV haben kürzlich die entsprechenden Unterstützungserklärungen abgegeben.

Erfreulich ist, dass auch Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit und der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Sellering, ihre Unterstützung zugesagt haben. Allerdings sind aus Mecklenburg-Vorpommern auch die größten Widerstände zu erwarten, denn in Rostock wird eine Verlagerung des Hafenumschlags nach Świnoujście befürchtet. Dass eine solche Verlagerung durch kürzere Schienenwege den Gütertransport auf der Schiene insgesamt stärkt, wird dabei bewusst ignoriert.

Deutscher Bahnkunden-Verband
Berliner Fahrgastverband IGEB

aus SIGNAL 4/2010 (September 2010), Seite 4-5

 

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