"Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,
lieber Herr Diepgen, Bundestag und Bundesregierung
konkretisieren in dieser Woche ihre
Vorstellungen für die Verlegung des Parlaments- und
Regierungssitzes nach Berlin.
Die Verhandlungen unserer Delegation zum Planungs-
und Baurecht sowie zur Organisation der künftigen
Zusammenarbeit zwischen Berlin, Brandenburg
und dem Bund liegen im Zeitplan. Um
so wichtiger erscheint es mir, daß auch die anstehenden
Fragen der Verkehrsplanung im
Spreebogen und Bezirk Mitte in weiteren Gesprächen
zwischen dem Senat und der Bundesregierung
alsbald einer einvernehmlichen Lösung
zugeführt werden.
Da gegen Ende des Jahres die vom Bundesminister
für Verkehr im Einvernehmen mit Ihrem
Senat beauftragten Gutachter Ihre Ergebnisse
vorlegen werden, sollten die Gespräche alsbald
im neuen Jahr beginnen. Lassen Sie mich zur
Vorbereitung dazu einige grundsätzliche Fragen
stellen:
1. Verkehrssenator, Bausenator und Stadtentwicklungssenator
haben - wenn auch mit unterschiedlicher
zeitlicher Bewertung - in der
Konzeptkommission des Deutschen Bundestages
das sog. Achsenkreuzmodell für die Führung
des Schienenfernverkehrs in Berlin mit
Nachdruck befürwortet. Danach würde im
Bereich des Lehrter Bahnhofs ein Fernbahnhof
entstehen, in dem sich alle auf Berlin gerichteten
großen Eisenbahnlinien
kreuzen. Die dadurch
bedingte hohe
Verkehrsgunst, die
sämtliche andere Haltepunkte
des Schienenfernverkehrs
deutlich
übersteigen würde,
kommt auch Parlament
und Regierung
zugute; zugleich ist
aber zu befürchten,
daß der Kreuzungsbahnhof
einen starken
Kraftfahrzeugverkehr
auf sich zieht, und
dies in einem Stadtgebiet,
das wegen seiner
Zentralität schon den
Wirtschaftsverkehr
kaum verkraften kann.
Berlin folgt sonst aus
guten Gründen dem
Leitbild einer polyzentrisch-dezentralen
Stadtentwicklung. Ich
frage mich, ob nicht
zur Stärkung der polyzentrischen
Struktur
das vom Bundesminister
für Verkehr
favorisierte Ringmodell
zu befürworten
und auf die Schaffung
einer überragenden
Zentralität am Lehrter
Bahnhof zu verzichten
wäre.
2. Wenn gleichwohl das Achsenkreuzmodell
verwirklicht werden sollte, müßte ernsthaft
erwogen werden, die Tunneltrassen soweit wie
möglich nach Westen zu verschwenken, um die
Hochbauplanung des Bundes im Spreebogen
und die Tunnelplanung räumlich und damit
auch zeitlich zu entzerren. Die Nord-Süd-Strecke
und die Stadtbahnstrecke kämen daher am
Lehrter Bahnhof stärker in Parallellage; die
Tunnelbauweise dürfte sich bei beiden Trassen
gleichen. Die Gutachter versichern mir daher,
daß eine Westverschwenkung bau- und betriebstechnisch
ohne nennenswerte Nachteile
möglich ist.
3. Hinsichtlich der Straßenplanung dürften wir
uns einig sein, daß der Kraftfahrzeug-Durchgangsverkehr
aus dem Parlaments- und Regierungsbereich
ferngehalten werden sollte und die
Erschließung des Spreebogens so schonend wie
möglich erfolgen muß. Ich frage mich allerdings.
ob die den Gutachtern übergebenen Straßenpläne
diesem Grundsatz wirklich Rechnung tragen.
Problematisch ist insbesondere die Führung
des Ost-West-Verkehrs und die Anbindung
des Nord-Süd-Straßentunnels.
Ich vermag nicht einzusehen, warum der Spreebogen
und die sog. Ministergärten in Ost-West-Richtung
durchschnitten werden sollen.
Auch muß sichergestellt werden, daß die Anschlußstrecken
und -knoten an den vorgegebenen
Nord-Süd-Tunnel so leistungsfähig wie die
Tunnelstruktur selbst ausgebildet werden.
4. Diskussionsbedarf besteht aus meiner Sicht
auch über die Stellplatzfrage im Bezirk Mitte
und dem Spreebogen. Einerseits wird vielfach
die Erwartung an mich herangetragen, daß die
beim Deutschen Bundestag und bei der
Bundesregierung beschäftigten Personen auch
künftig ihren Arbeitsplatz mit ihrem eigenen
Pkw erreichen sollten. Aufgrund dieser Annahme
wurden die Stellplatzanforderungen durch
die Bundestagsverwaltung formuliert. Auf der
anderen Seite dürften der auf den Bezirk Mitte
gerichtete Wirtschaftsverkehr sowie die
Erreichbarkeit des Gebietes für die im Bezirk
Mitte ansässige Bevölkerung langfristig nur mit
großen Anstrengungen aufrecht erhalten werden
können. Der Senator für Stadtentwicklung
und Umweltschutz propagiert eine Aufteilung
zwischen Öffentlichem Personennahverkehr
und Individualverkehr im Verhältnis von 80:20.
Wenn diese Forderung in amtliche Politik umgesetzt
werden sollte, müßte sie ihren Niederschlag
auch bei den Stellplätzen finden. Sie kann
nicht Für jeden Arbeitgeber unterschiedlich formuliert
werden. Sie haben sicher Verständnis
dafür, daß ich die Beschäftigten des Bundes
nicht schlechter behandelt sehen möchte als die
Mitarbeiter von Sony, Hertie oder irgendeinem
anderen privaten Arbeitgeber im Bezirk Mitte,
daß der Bund aber auch keine Stellplätze
anlegen will, die praktisch mangels entsprechender
Straßenkapazität nicht genutzt werden
können.
5. Der Stellplatzentscheidung muß der Ausbau
des Öffentlichen Personennahverkehrs zwischen
dem Bezirk Mitte und den übrigen Stadtteilen
Berlins und dem Umland entsprechen.
Für das Parlament und die Regierung ist darüber
hinaus die Anbindung des Spreebogens an
die Flughäfen Tegel und Schönefeld von besonderer
Bedeutung. Es sollte gemeinsames Ziel
sein, den Parlamentsbereich mit den Flughäfen
Tegel und Schönefeld zu dem Zeitpunkt auf der
Schiene zu verbinden, zu dem der Deutsche
Bundestag in Berlin arbeitsfähig ist. Ich wäre
Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen könnten,
wie der Senat dies auch zeitlich sicherstellen
will.
Abschließend darf ich Sie bitten, dem zeitlichen
Ablauf der verschiedenen Bauinvestitionen in
Berlin-Mitte Aufmerksamkeit zu schenken, um
Überhitzungen der Baukonjunktur bestmöglich
zu vermeiden und eine rechtzeitige Fertigstellung
auch der Verkehrsinfrastruktur im Bereich
des Reichstages sicherzustellen. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Bonn, den 13. Dezember 1991
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