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Berliner Alltag: Eine Mutter mit ihren zwei Kindern geht die Straße
hinunter. Nun stoßen sie links an die Geschäftsauslagen und weichen nach
rechts aus, wo ein "Fußgängerschutzgitter" sie auf die Mitte des Bürgersteigs
zurückprallen läßt. Unmöglich, Entgegenkommenden anders als im Gänsemarsch
auszuweichen! Dann können die drei wieder nebeneinander gehen, aber ein
auf dem Gehweg parkender Pkw zwingt die Mutter erneut, ihre Kinder vor
sich her zu schieben.
Der Bürgersteig scheint überhaupt die Rumpelkammer des Lebensraums Straße
darzustellen. Ob es der Schilderwald ist, die Fahrradwege und -Ständer, die
kompakten Säulen und Unterstände der BVG, die Müllbehälter der BSR oder
die Würstchenbuden - alles signalisiert, daß der Bürgersteig die Restfläche
der eigentlichen Straße ist, wo der "richtige" Verkehr stattfindet.
Was übrig bleibt, ist potentielle Parkplatzfläche, und dies scheint von
Gott so gewollt. Wildes Gehwegparken wird gegebenfalls von der Polizei
legalisiert, wie z.B. auf der Rosa-Luxemburg-Straße, wo die Fußgänger/-innen
sich auf dem Bürgersteig mühevoll an den Pkws vorbeischlängeln. Die
sogenannte "Durchfahrtsfunktion" der Straße ist der Verkehrspolizei
und den Bezirksämtern heilig.
Dies mußten auch die Anwohner der Sundgauer Straße in Zehlendorf erfahren,
die versucht hatten, Tempo 30 in ihrer Straße zu bewahren
(vgl. SIGNAL 2/93 ). Dabei machten sie das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit geltend gegenüber dem Zeitgewinn
der durchfahrenden Autofahrer von einigen Sekunden. Sie scheiterten in der
zweiten Instanz am Urteil des Oberverwaltungsgerichts.
Demgegenüber bemängelt eine Studie des Senators für Stadtentwicklung und
Umweltschutz zur "Ökologischen Belastbarkeit der Berliner Innenstadt
durch den Kfz-Verkehr" von 1993, daß die Innenstadtstraßen allesamt auf die
Durchfahrtsfunktion reduziert wurden, während ihre Aufgabe als gestalteter
Raum und als Aufenthaltsbereich zum "Bummeln, Verweilen, miteinander Reden
und Spielen" der Verlärmung und Verseuchung weichen mußten. Die Studie
kommt zu dem Ergebnis, daß dies anders werden muß, denn "Fußgänger
gelten als Gradmesser für städtische Öffentlichkeit im Straßenraum".
Mit ihrem hohen Anteil an Frauen und Kindern sind die Fußgänger/-innen
diejenigen, die am stärksten unter den jetzigen Verkehrsverhältnissen zu
leiden haben. Sie bilden z.B. die Mehrheit der im Berliner Straßenverkehr
getöteten Menschen, ihr im Grundgesetz verbürgtes Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit wird gering geachtet. "Jahr für Jahr opfern
wir in der Stadt 20 Kinder, die sterben müssen, nur weil sie es nicht
geschafft haben, die Straße zu überqueren - ihre Zahl steigt jährlich.
Ist das der Preis der automobilen Freiheit, den wir zu zahlen bereit sind?"
fragt Liv Garzon, Lehrerin und Mitglied im FUSS e.V. Der FUSS e.V.
veranstaltet Mahnwachen dort, wo Kinder im Straßenverkehr getötet wurden.
Chris Lopatta ist Schauspieler und findet Autofahren in der Stadt
unverantwortlich, weil die Luft- und Lärm-Emissionen bereits jetzt eine
unzumutbare gesundheitliche Gefährdung darstellen. Ingrid und Klaus Polzin
haben trotz Familie ihr Auto aus Umweltschutzgründen abgeschafft und dabei
aus ihrer Sicht nur gewonnen: "Wir sind viel beweglicher geworden und wundern
uns jedesmal, wieviel Geld wir am Ende des Monats durch die Einsparung des
Autos zur Verfügung haben." Sie setzen sich für autofreie Plätze,
autofreie Bürgersteige und Straßen in der Innenstadt ein.
Sylke Granitza hat ein kleines Kind und will die Schikanen, denen
Kinderwagen schiebende Eltern in Bussen und auf den Straßen ausgesetzt
sind, nicht einfach nur erdulden. "Selbst auf dem Gehweg sind wir dem
Anschlag eines Autofahrers, der aus einer Hofeinfahrt geprescht kam, nur
mit knapper Not entronnen." Brigitte Domurath findet, daß Ampeln keinen
Sicherheitsgewinn für Kinder und Fußgänger darstellen: "Die Ampel bringt's
nicht, da die Kinder größtenteils nachmittags und nicht auf dem Schulweg
überfahren werden. Dann passieren die Unfälle vor oder hinter der Ampel, wo
Autofahrer Gas geben, um von der Kreuzung wegzukommen. Eine Ampel schränkt
außerdem die Mobilität von Fußgänger/-innen stark ein, die oft 100 Meter
weite Wege in Kauf nehmen müssen, um eine Straße 'vorschriftsmäßig' zu
überqueren."
Gerhard Mager weist auf ein noch krasseres Beispiel für alltägliche
Hindernisse hin, die sogenannten "Fußgängerschutzgitter". Am Weidendamm -
Kupfergraben im Bezirk Mitte, kurz vor der Museumsinsel, verwandelt sich ein
solches "Schutzgitter" in einen veritablen Fußgängerkäfig: Um ihren Weg auf
der Promenade an der Behelfsbrücke über die Spree fortzusetzen, müssen
Fußgänger/-innen das kolossal überdimensionierte Gitter überklettern -
zweckmäßige Bekleidung ist angebracht. Gerhard Mager: "Wann kommt die
Helm- und Hosenpflicht für die weichen Verkehrsteilnehmer?"
Dabei gibt es auch Fußgängerfreundliches aus der Welt der
Verwaltungsrichtlinien zum Verkehr zu vermelden. Bernd Herzog-Schlagk
macht darauf aufmerksam, daß seit 1992 die neuen "Richtlinien für
Lichtsignalanlagen" gelten. Ein Bestandteil
dieser neuen Richtlinien ist das sogenannte Rund-um-Grün, eine
fußgängerfreundliche Ampelschaltung an Kreuzungen: In einer zusätzlichen
Phase der Schaltung können Fußgänger/-innen die Kreuzung gleichzeitig
"vertikal", "horizontal" und diagonal queren. Bernd fragte bei der Berliner
Straßenverkehrsbehörde nach. Diese Ampelschaltung, die Kreuzungen in
Einkaufszentren erheblich entlasten würde, stieß dort auf taube Ohren.
Doris Kortmann ist Übersetzerin und kritisiert, daß sie sich als
Nicht-Autofahrerin zwar ökologisch vertretbar durch die Stadt bewegt, aber
von den verantwortlichen Politikern, die selbst Auto fahren, dafür
keineswegs ausreichend belohnt wird: "Die Autofahrer bestimmen einseitig
unsere Lebensverhältnisse, so wie es früher die Raucher gegenüber den
Nichtrauchern getan haben. Dabei leben in Berlin 48% aller Haushalte ohne
ein Auto!" Doris drängt bei den Bezirken auf Wohnen ohne Auto - in
Lichterfelde-Süd wie in Karow-Nord, an der Eldenaer Straße und an der
Rummelsburger Bucht, "ln Wirklichkeit suchen alle nach Straßen zum
Bummeln und Verweilen."
"Eine Straße zum Bummeln und Verweilen ist die Brückenstraße leider gar
nicht", schimpft Rolf Schaffernicht. Ganz im Gegenteil: Benzol- und
Dieselrußwerte liegen deutlich über allen Grenzwerten, und die Anwohnerinnen
und Anwohner klagen noch mehr über den unerträglichen Lärm - tags wie nachts.
Dennoch sind weder der Verkehrssenator noch der Gesundheitssenator noch
der Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz tätig geworden. Die Herren
werfen sich seit Jahren die heiße Kartoffel "Brückenstraße" gegenseitig zu.
Auch die Richter des Verwaltungsgerichts, vor dem zwei Anwohnerinnen bereits
seit einem Jahr klagen, wollen sich an dieser Kartoffel nicht vergreifen.
Noch kein einziger Verhandlungstermin wurde angesetzt. Deswegen veranstaltete
der FUSS e.V. im Mai zusammen mit den Anwohnerinnen und Anwohnern ein
politisches Picknick auf der Fahrbahn der Brückenstraße. Fazit: Rolf will
den Gesundheitsenator zur Rede stellen: "Warum hat der Senator den Weg zu den
Anwohnerinnen noch nicht gefunden? Sein Büro ist am Ende der Brückenstraße -
ist ihm der Weg zu weit?!" FUSS e.V.
Berlin-Brandenburg
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