Stellungnahme zum Verkehrskonzept für das Parlaments- und Regierungsviertel in Berlin

In SIGNAL 9-10/93 war das “Verkehrskonzept für das Parlaments- und Regierungsviertel“ der IGEB abgedruckt worden. Mit Schreiben vom 3. Januar 1994 antwortete das Bundesverkehrsministerium (siehe SIGNAL 1/94) - und am 30. März schrieb die Berliner Verkehrsverwaltung. Dieses Schreiben sind wir Ihnen noch schuldig gebheben. Wir bitten die Verzögerung zu entschuldigen.

Berlin, den 30. März 1994.

Sehr geehrter Herr Curth, vom Bundesministerium für Verkehr (BMV) erhielten wir die o.g. Konzeption Ihres Verbandes sowie die Kopie eines an Sie gerichteten Antwortschreibens des BMV vom 3. Januar 1994 aufgrund Ihrer Schreiben an mehrere Repräsentanten des Bundes und der Parteien in Bonn. Das BMV bat uns, die Konzeption im Rahmen unserer Arbeit an der Berliner Verkehrsplanung zu prüfen und sich zu dem Ergebnis zu äußern.

[IGEB] Hätte die Berliner Verkehrsverwaltung auch ohne die Aufforderung aus Bonn geantwortet? Zweifel sind erlaubt.

U-Bahn
Foto: Thomas Billik
U-Bahn
Abgestellte U-Bahn-Großprofilzüge vom Typ E III in Hönow. Die durch Umbau von S-Bahn-Wagen für den Einsatz auf der Linie E (heute U5) geschaffenen Züge wurden im Juli, deutlich früher als geplant, aus dem Verkehr genommen. Rechts: E Ill-Zug vor der Einfahrt in den U-Bf Louis-Lewin-Straße am letzten Einsatztag, dem 16. Juli. Foto: Frank Lammers

Vorab müssen wir auf folgende Richtigstellungen hinweisen: Im Abschnitt 2 Ihres Konzeptes wird fälschlicherweise behauptet, daß neue U-Bahn-Fahrzeuge nur für den Mehrbedarf für Taktverdichtungen und den Austausch intakter Fahrzeuge der Baureihe D beschafft werden. Richtig ist vielmehr, daß die neuen Fahrzeuge der Serien F 94 und H (Prototyp ab 1995, Serie ab 1996) zwar auch für Taktverdichtungen, was durchaus im Interesse der Fahrgäste liegt, dienen, vor allem aber für Streckenverlängerungen, z.B. Paracelsus-Bad - Wittenau Nordbahn (1. Oktober 1994), und dem Austausch der völlig überalterten und kaum mehr betriebstauglichen Fahrzeuge E III.

Bei der auf der Linie 5 Alexanderplatz - Hönow eingesetzten Bauart E III handelt es sich um in den Jahren 1962 - 1975 im Reichsbahnausbesserungswerk Schöneweide umgebaute ehemalige S-Bahn-Wagen der Baureihen 168, 169 und 165 aus den 20er und 30er Jahren. Die U-Bahn-Fahrzeuge der Bauart E III zeichnen sich durch einen nicht mehr hinnehmbaren Instandhaltungsaufwand, überhöhten Energieverbrauch, Lärm, ständige Ölverluste und geringe Verfügbarkeit aus. Daher werden alle Anstrengungen unternommen, diese Baureihe bis zum IV. Quartal 1994 komplett auszumustem. [Letzter Einsatztag war der 16. Juli. - D.Red.]

Ferner wird in diesem Abschnitt behauptet, Berlin plane für 1,1 Mrd. DM neue Signale zu beschaffen, die keinerlei Verbesserung für den Fahrgast bringen. Auch diese Aussage ist nicht richtig. Tatsache ist, daß insbesondere auf den Altbauabschnitten der Linien 5, 6 (Abschnitt zwischen Stadtmitte und Zinnowitzer Straße) und 8 (Abschnitt Heinrich-Heine-Straße - Bernauer Straße) die Signalanlagen das Ende ihrer Lebensdauer erreicht haben und auch den Kriterien der Instandhaltungsfreundlichkeit und Leistungsfähigkeit nicht mehr entsprechen. Die Beschaffung der neuen Signaltechnik bedeutet hier nicht nur eine höhere Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit, sondern es sind auch notwendige Taktverdichtungen und auf der U-Bahn-Linie 8 eine höhere Geschwindigkeit möglich. Ferner erlaubt das Signalsystem im Verspätungsfalle, durch Zugüberwachung und die mögliche Taktfolge schnell wieder nach dem stabilen Fahrplan fahren zu können. Somit kommen diese Investitionen nicht nur der kostengünstigen Betriebsführung, sondern unmittelbar auch den Fahrgästen zugute.

Eine weitere Behauptung im Abschnitt 2, daß der Senat bis zum Jahr 2002 keine finanziellen Mittel mehr für die Beschleunigung des Busverkehrs ausgeben will, ist falsch. Der Senat hat am 2. Juni 1992 ein "Beschleunigungskonzept für Autobus und Straßenbahn in Berlin" beschlossen, nach dem 270 km Streckenlänge bezüglich Beschleunigungsmöglichkeiten geprüft und möglichst kurzfristig umgesetzt werden sollen. Dieser Beschluß besitzt weiterhin seine Gültigkeit und wird kontinuierlich realisiert. Noch im Monat März dieses Jahres wird im Senat eine Berichterstattung unserer Verwaltung zu diesem Thema erfolgen.

Wie Sie bereits durch das BMV informiert wurden, befindet sich die Zuständigkeit für die Planung und Realisierung der Baumaßnahmen für die Eisenbahn und die S-Bahn in der Region Berlin beim Bund.

[IGEB] Anscheinend als Konsequenz aus der Zuständigkeit des Bundes hat der Verkehrssenator im Sommer 1994 sein Bahnreferat aufgelöst. Für den Fern- und Regionalverkehr ist nun niemand mehr zuständig. Aufgrund welcher Erfahrungen bzw. Erkenntnisse glaubt Herr Haase denn, daß die Planungen der DB AG stets nur zum Wohle der Stadt Berlin ausfallen werden und daß demzufolge eine aufmerksame und kompetente Begleitung dieser Planung (einschließlich Kritik und Altemativkonzepten) nicht erforderlich sei? Und weil man schon beim "Ausmisten" war, hat Herr Haase seinen Straßenbahnplaner ins Straßenplanungsreferat gesteckt. Wenn das keine Strafversetzung mit Symbolcharakter ist!

Basierend auf dieser Grundaussage wurde gemeinsam durch den Bund und den Senat von Berlin die komplexe Verkehrslösung für den zentralen Bereich von Berlin, einschließlich des Parlaments- und Regierungsviertels, erarbeitet und beschlossen.

Zur finanziellen Absicherung der geplanten Verkehrsbaumaßnahmen, insbesondere beim ÖPNV, faßte der Senat am 5. Oktober 1993 einen diesbezüglichen Beschluß, der die Prioritäten für die zeitliche Realisierung von U- und Straßenbahnmaßnahmen - entsprechend der Berliner Verantwortlichkeit - für den Zeitraum bis zum Jahr 2002 festlegt.

Die von Ihrem Verband vorgeschlagenen Maßnahmen zur ÖPNV-Planung - speziell zur Erschließung des Parlaments- und Regierungsviertels - stellen praktisch eine Straßenbahnnetzplanung für den westlichen Teil von Berlin unter Einbeziehung der Anschlüsse an das bestehende Straßenbahnnetz in Berlin-Mitte dar.

[IGEB] Danke für das Lob, aber wir können es nicht annehmen, denn unsere Vorschläge sind noch lange keine Straßenbahnnetzplanung für den Westteil. Wer in vier Tramlinien, die die West- Berliner City kaum verlassen, schon ein komplettes Straßenbahnnetz für West-Berlin sieht, zeigt sein begrenztes Denken beim Zukunftsthema Tramausbau.

Einige der vorgeschlagenen Linienführungen haben bereits in die im Frühjahr 1993 vom Senat beschlossene Straßenbahnnetzkonzeption Eingang gefunden, andere sind für die Fortschreibung der Planungen zur Prüfung vorgesehen.

Bezogen auf die jeweilig vorgeschlagenen Linienführungen muß jedoch festgestellt werden, daß die Strecken im Detail nicht in jedem Fall nachvollziebar sind, da nur sehr knappe Angaben vorliegen (z.B. zur sogenannten Kanzlerlinie zwischen Mierendorffplatz und Wittenau).

Es ist aber erkennbar, daß eine Vielzahl schwieriger bautechnischer Probleme auftreten werden, die bei einem stadtbahngerechten Ausbau - und dieser müßte eingehalten werden, um die notwendige und angemessene Qualität der Verkehrserschließung zu erreichen - wesentlich höhere Kosten verursachen werden, als sie von Ihnen mit 8 Mio. DM je km angesetzt worden sind. Insbesondere die Kosten für Leitungsumverlegungen und notwendige Straßenumbauten stellen hierbei einen erheblichen Risikofaktor dar.

Beispielsweise werden nach den uns vorliegenden Erkenntnissen für die geplante Neubaustrecke Bornholmer Straße - Eckernförder Platz ca. 140 Mio. DM veranschlagt. Dies bedeutet bei ca. 5 km Länge einen Kostenansatz von 28 Mio. DM je km Streckenlänge. Die Ursache hierfür liegt primär bei der Freimachung der Trasse durch die Leitungsverwaltungen.

[IGEB] Leitungssanierung mit Straßenbahngeldern! Für das Vorgehen Berlins, aus dem knappen Etat für Nahverkehrsbauten neue Leitungen für die kapitalkräftigen Versorgungsbetriebe zu bezahlen, gibt es keine Rechtfertigung. Keine andere Stadt Deutschlands macht solchen Unfug, und daher hat auch keine andere Stadt Deutschlands so hohe Kosten für einen Kilometer Tram-Neubaustrecke. Unverkennbar ist also die Absicht von Senator Haase, mit Hilfe der Kosten der Leitungsverlegungen den Straßenbahnbau zu bremsen. Wo steht denn, daß unter einer Straßenbahntrasse keine Leitungen liegen dürfen? Querende Leitungen wird es doch ohnehin immer geben! Und eines ist sicher: Bei jedem U-Bahn-Bau wird der Aufwand für unvermeidbare Leitungsverlegungen stets viel größer sein als beim Straßenbahnbau. Aber es geht ja auch gar nicht um Sachargumente. Der Berliner Verkehrssenator und seine einflußreichsten Mitarbeiter sind für die U5 und gegen die Tram! Basta!

Diese hohen Kosten sind nur vertretbar, wenn die Wirtschaftlichkeit des Straßenbahnbetriebes unter Berücksichtigung der praktischen Leistungsfähigkeit gesichert werden kann. Dazu sind in Ihrem Vorschlag keine Angaben enthalten. Für ernsthafte Planungsmaßnahmen bildet jedoch der Nachweis der Straßenbahnwürdigkeit der vorgeschlagenen Strecken hinsichtlich der Verkehrsmengen, der Verkehrsströme und der Wirtschaftlichkeitsberechnungen die entscheidende Voraussetzung. Unter diesem Aspekt sehen wir bei einigen der vorgeschlagenen Streckenabschnitte diese Kriterien nicht erfüllt.

[IGEB] Vollends absurd wird die Argumentation des Verkehrssenators, wenn nun vom Fahrgastverband der "Nachweis der Straßenbahnwürdigkeit" gefordert wird. Dies ist natürlich eine originäre Aufgabe der Senatsverwaltung für Verkehr, die sie aber seit Jahren ignoriert. Von "ernsthafter" Planung im Sinne von seriöser Planung ist gerade der Verkehrssenator meilenweit entfernt. So hat er im Rahmen der sogenannten "Standardisierten Bewertung" von Planungsvarianten zur U5 nicht eine einzige Variante mit Tram statt U5-Verlängerung untersucht. Das Milliarden-Projekt, inzwischen geht man von 1,7 Mrd DM für den Abschnitt Alexanderplatz - Lehrter Bahnhof aus, soll offensichtlich ohne Rücksicht auf Verluste durchgepeitscht werden. Welche Interessenverbände haben Sie denn zu bedienen, Herr Haase? Die Fahrgastinteressen können es jedenfalls nicht sein. Denn mit der U5 sterben alle anderen Vorhaben an Geldmangel.

Wir bitten um Verständnis, daß Ihre Vorschläge in diesem Schreiben nicht weiter im einzelnen behandelt werden konnten.

Mit freundlichem Gruß
Im Auftrag , Dr. Kalender

Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe

aus SIGNAL 6/1994 (August 1994), Seite 14-15

 

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