Seit der politischen Wende in der DDR und
in Berlin wird das anzustrebende Eisenbahnnetz
für die deutsche Hauptstadt von
Eisenbahnfachleuten, Verkehrswissenschaftlern
und Verkehrspolitikern diskutiert.
Dabei gibt es viele interessante
Lösungsvorschläge. Insbesondere von den
Vorschlägen des Büros für Verkehrsplanung
[s. SIGNAL 2/90 ], des Fördervereins
Anhalter und Lehrter Bahnhof [s. SIGNAL 6 -7 /90]
sowie der Deutschen Eisenbahn-Consult Berlin
[s. SIGNAL 9/90 ] habe ich
sehr profitiert und danke den betreffenden
Sachverständigen für ausführliche Diskussionen.
Da mir die bisherigen Vorschläge
für die Durchführung insbesondere der internationalen
Hauptverkehre EuroCity und
ICE nicht ausreichend erscheinen, lege ich
nachstehend einen Vorschlag zur optimalen
Durchquerung der Stadt durch diese Züge
vor.
Ausgangssituation
Das wiedervereinigte Berlin ist auf dem
Wege, mit seinen heute 3,5 Millionen Einwohnern
(in der Region Berlin sind es etwa
4,3 Mio.) nicht nur die Hauptstadtfunktion
einschließlich Parlaments- und Regierungsitz,
sondern auch die Rolle einer europäischen
Metropole in enger Nachbarschaft zu
dem sich öffnenden Osteuropa zu übernehmen.
Dies bedeutet einen zu erwartenden
starken Zuwachs an Bevölkerung (auf bis zu
5 oder 5,5 Millionen Einwohner in der Region).
Gleichzeitig werden Forschung, Produktion
und Dienstleistungen stark anwachsen.
Überregionaler Verkehrsknoten Berlin
Aus dieser zu erwartenden Entwicklung ergibt
sich ein starkes Ansteigen der Verkehrströme
auf der Straße, der Schiene, auf
den Wasserwegen und in der Luft: Berlin ist
auf dem Wege, seine alte Rolle als wohl
wichtigster Verkehrsknotenpunkt im nördlichen
Mitteleuropa wiederzuerlangen. Liegt
die Stadt doch in der Mitte auf den Verbindungslinien
zwischen Hamburg und Breslau,
Amsterdam und Warschau, zwischen Paris
und Vilnius auf der alten Strecke nach St.
Petersburg (Leningrad), zwischen Mailand
und Stockholm sowie Kopenhagen
und Prag. Diese Verbindungen werden insbesondere
durch ein in den fünf neuen Bundesländern und der
Region Berlin zu erneuerndes bzw. zu
modernisierendes Eisenbahnnetz neu
hergestellt werden.
Berlin hat die Chance, wieder ein herausragender
europäischer Eisenbahnknoten zu werden!
Der Zustand des Eisenbahnnetzes in Berlin
Das System der Eisenbahnfernstrecken
nach Berlin ist
durch die Nachkriegsentwicklung
zerstört worden. Die
Kopfbahnhöfe
(Lehrter und Stettiner Bahnhof) für die
Strecken von Norden, der Potsdamer,
der Anhalter und
der Görlitzer Bahnhof für die Strecken
von Süden wurden
nach 1952 abgerissen. Jahrzehntelang
begann der Fernverkehr für den Westteil
der Stadt nach Norden, Westen und Süden auf der Stadtbahn,
für den Ostteil der Stadt in alle Richtungen
im abseits des Zentrums gelegenen Bahnhof
Lichtenberg oder gar in Schöneweide, Königs Wusterhausen
bzw. Schönefeld. Und
die alten Zulaufstrecken zur Innenstadt,
außer über Staaken, Wannsee und Ostkreuz,
sind bis heute unterbrochen.
Allerdings sind die Trassen der Zulaufstrecken
sowie des Innenringes, abgesehen von
ihrem technischen Zustand, nach wie vor
vorhanden und verfügbar und werden einschließlich
der Gelände etlicher Güterbahnhöfe sowie
(bis auf den Görlitzer Bahnhof)
der alten Kopfbahnhöfe freigehalten.
Hier liegt die Chance der Wiederherstellung
eines modernen Eisenbahnnetzes für
Berlin, das allerdings heute den großen
Mangel der Vorkriegszeit sowie anderer
vergleichbarer Großstädte wie London oder
Paris, nämlich das Fehlen der Durchbindung
wichtiger Zugverbindungen in Nord-Süd-Richtung
auf Grund des Systems der
Kopfbahnhöfe, durch neue Lösungen überwinden muß.
Allerdings entspricht die
Stadtbahn von 1882 auch nicht den Notwendigkeiten
eines modernen Ost-West-Verkehrs.
Rolle des Fernverkehrs in Berlin
Systemvoneile des modernen Eisenbahnfernverkehrs
sind heute eine möglichst hohe
Reisegeschwindigkeit, die wetterunabhängige
Pünktlichkeit des Verkehrsmittels Bahn
einschließlich einer großen Häufigkeit der
Verbindungen (1- bis 2-Stunden-Takt) und
die schnelle Durchbindung in das jeweilige
Stadtzentrum. In Folge der Belastung der
Straßennetze der Großstädte ist die Bahn
auf diese Weise dem Auto und - durch die
meist außerhalb liegenden und damit nur
zeitaufwendig erreichbaren Flughäfen bis
500/600 km Distanz - auch dem Flugzeug
gegenüber konkurrenzfähig, wenn nicht
schon überlegen.
Stadtzentrum meint die Mitte der Gesamtstadt,
und das ist in Berlin in der Nähe von
Parlaments- und Regierungssitz und dem
Sitz des Bundespräsidenten bzw. in oder am
Zentrum Mitte sowie der City West, von wo
aus alle anderen Zentren der Stadt gleich
gut erreichbar sind. Die Schaffung und Nutzung
eines Zentralbahnhofs mit den so definierten
Standortkoordinaten läßt durchaus
offen, daß aufgrund der polyzentralen
Struktur der Stadt auch andere Bahnhöfe -
beispielsweise auf einer Nord-Süd- sowie
einer Ost-West-Verbindungsbahn (hier konkret: der Stadtbahn)
vom IC- und IR-Verkehr bedient werden.
Auch die Absicht, neue urbane Zentren
durch den Neu- bzw. Ausbau von Bahnhöfen
auf dem Berliner Innenring schaffen zu
wollen, steht nicht im Widerspruch zur
Schaffung eines Zentralbahnhofs und dort
zusammengeführter Ost-West- sowie Nord-Süd-Fernverbindungen.
Die Führung des Fernverkehrs durch Berlin
a) Nord-Süd-Verkehr
Der Bau einer Nord-Süd-Verbindungsbahn
ist die betriebstechnisch zweckmäßigste Lösung
für die früher in Kopfbahnhöfen endenden
Strecken. Hierzu ist die Bündelung
der Zulaufstrecken von Stettin, Stralsund
sowie Rostock über den Bahnhof Gesundbrunnen
mit der Strecke von Hamburg über
Jungfernheide auf der Lehrter und Hamburger Bahn erforderlich.
Im Bereich des
alten Lehrter Bahnhofs bietet sich der Ort
für einen Zentralbahnhof in Tieflage an.
Von dort soll ein viergleisiger Tunnel unter
der Spree den Schnellverkehr sowie den
wichtigen IC- und IR-Verkehr (z.B. auch
einen Schnellverkehr nach Potsdam über
die Berlin-Potsdamer-Bahn/Stammbahn)
nach Süden Führen, wobei die Anhalter
Bahn wieder über Lichterfelde Süd zu führen ist.
Im Falle eines Neubaues der Dresdner Bahn
sollten beide gemeinsam aus der
Stadt geführt werden.
Auf dieser Strecke können neben dem Zentralbahnhof
die Bahnhöfe Gesundbrunnen,
Gleisdreieck (in Tieflage westlich der U2)
sowie Papestraße (Südbahnhof) als Haltepunkte
für den IC- und IR-Verkehr geschaffen werden.
Alle drei bieten Verknüpfungen mit S- bzw. U-Bahn-Linien.
Die DE-Consult schlägt in ihrem Konzept
Bahnhöfe am Potsdamer Platz und an der
Yorckstraße vor. Wegen des zu erwartenden
zusätzlichen Oberflächenverkehrs am
Potsdamer Platz ist aber eine Lage am
Gleisdreieck vorzuziehen, was wegen der
Nähe zur Yorckstraße das dortige Bahnhofsprojekt
überflüssig macht. Dennoch
sollte der genannte Vorschlag geprüft werden.
Der Förderverein Anhalter und Lehrter
Bahnhof schlägt für den Nord-Süd-Tunnel
eine andere Trasse über den Anhalter
Bahnhof, der dann allerdings auch nur in
Tieflage reaktiviert werden kann, vor, Das
erscheint interessant, dürfte aber gerade am
Landwehrkanal nur mit unverhältnismäßig
hohem Aufwand einen Anschluß der U7
oder gar der U1 und U2 ermöglichen. Auch
dürfte die Tunnelführung westlich des Potsdamer
Platzes weniger aufwendig sein.
b) West-Ost-Verkehr
Der Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke
von Hannover nach Berlin-Stadtbahn ist beschlossen.
Die ICE-Züge sollen von Spandau über Eichkamp und Westkreuz und
über die Stadtbahn zum Schlesischen/Hauptbahnhof fahren.
Das bedeutet eine
Fahrzeit von etwa 30 Minuten allein vom
Hauptbahnhof bis zur Stadtgrenze. In der
geichen Zeit kann der Zug von dort aus
Gardelegen oder Oebisfelde erreichen,
Wenn also Reisegeschwindigkeit ein deutlicher
Systemvorteil der Hochgeschwindigkeitszüge sein
soll, dann ist die Stadtbahn
von l882 die ungeeignetste Verbindungsbahn in Berlin.
Ab esehen davon wäre sie
auf die Dauer der Gesamtmenge von etwa
114 Zugpaaren pro Tag wohl kaum gewachsen.
Eine erheblich schnellere Zuführung der
Züge von Westen (wie auch aus Hamburg)
zum geplanten Zentralbahnhof ist von Staaken aus
über die Lehrter und Hamburger
Bahn mit nur einer Kurve östlich von Moabit möglich.
Diese Züge stünden dann
Bahnsteigkante an Bahnsteigkante mit den
Zügen der Nord-Süd-Relationen, was auch
das Umsteigen gegenüber einer Kreuzung
mit drei Ebenen Differenz erheblich erleichtert.
Der Zentralbahnhof müßte dann
auf 12 bis 16 Gleise ausgelegt werden, und
seine Lage sollte auch einen Ausgang südlich
der Spree in Richtung Reichstag ermöglichen.
Da in den kommenden Jahren eine zunehmende
Öffnung Osteuropas zu erwarten ist,
wird auch der Eisenbahnverkehr in diese
Richtung an Bedeutung zunehmen. Deshalb
ist die Weiterführung der wichtigen Züge
von Westen in Richtung Polen und Sowjetunion
unerläßlich. Gleiches gilt für IC- und
IR-Züge Richtung Frankfurt/Oder und
Cottbus/Görlitz. Deshalb ist etwa in Höhe
des Brandenburger Tores ein zusätzlicher
Tunnel von der Nord-Süd-Linie nach Südosten
abzuzwegen, der östlich des Leipziger
Platzes nach Osten schwenkt und weiter unter der
Spree hindurch in Tiellage zum
Schlesischen/Hauptbahnhof führt (vgl. Skizze auf Seite 10).
Dieser Tunnel ergänzt die Möglichkeit der
schnellen Durchfahrt der wichtigen Züge
(ICE und IC) hervorragend. Weil die IR-
und sicher auch ein Teil der IC-Züge weiterhin
über die Stadtbahn fahren, kann der
Ost-West-Tunnel sicher auf zwei Gleise beschränkt
bleiben. Die Hochgeschwindigkeitszüge
hätten ihren Haltepunkt im Zentralbahnhof,
die auf derselben Strecke verkehrenden IC-Züge auch in Spandau und
im Schlesischen/Hauptbahnhof. Für die
über die Stadtbahn verkehrenden Züge
stünden zusätzlich die Bahnhöfe Charlottenburg,
Zoologischer Garten und Friedrichstraße zur Verfügung.
Der Zentralbahnhof im Nahverkehrsnetz
Der Zentralbahnhof ist einmal durch die
gebündelten S-Bahn-Linien auf der Stadtbahn
mit vielen Teilen der Stadt verbunden.
Ergänzend ist im Nord-Süd-Tunnel eine
weitere S-Bahn-Verbindung vorzusehen.
Darüber hinaus sollte eine U-Bahn-Linie
von Marzahn im Verlauf der heutigen Moll-/Wilhelm-Pieck- und
Invalidenstraße herangeführt und nach Moabit verlängert werden.
Ebenso ist eine U-Bahn-Linie vom Alexanderplatz über
Französische Straße und
Reichstag zum Zentralbahnhof vorzusehen.
Auch eine Straßenbahnanbindung des
Bahnhofs ist zu prüfen.
Ausblick
Die Bundesregierung will mit großem Vorrang
ein Maßnahmepaket “Verkehrsprojekte
Deutsche Einheit” realisieren, in dem
auch die Eisenbahnstrecken Hamburg - Büchen - Berlin,
Hannover - Stendal - Berlin,
Helmstedt - Magdeburg - Berlin sowie
Nürnberg - Erfurt - Halle/Leipzig - Berlin
enthalten sind. Es sollte selbstverständlich
sein, daß die Projekte nicht an der Grenze
Berlins und aus den schon genannten Gründen auch
nicht auf der Stadtbahn enden.
Die hier vorgelegten Vorschläge sollten als
Grundlage der schnellen Durchführung
wichtiger internationaler Eisenbahnverbindungen
durch die Hauptstadt Berlin automatisch
Bestandteil der Verkehrsprojekte
Deutsche Einheit sein.
Rainer B. Giesel
Verkehrspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion
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