Fahrgastkapazität der Straßenbahn
Im September 2008 stellte BVG-Straßenbahndirektor
Klaus-Dietrich Matschke die
vier Prototypen der neuen Generation Niederflurwagen
vom Typ Flexity für Berlin vor.
Nachdem sich die Vorgängerbauart GT6
aus den 1990er Jahren nach den üblichen
Kinderkrankheiten zwar technisch bewährt,
aber als zu klein erwiesen hatte, sollten nun
auch längere Einzelfahrzeuge beschafft werden.
Zu diesem Zeitpunkt fuhr die BVG nach
IGEB-Vorschlägen (siehe u. a. SIGNAL 3/2004 )
auf den meisten niederflurtauglichen Linien
ein Mischangebot aus abwechselnd GT6-solo-
und Tatra-Doppelzügen jeweils alle
20 Minuten. So gab es auf den Metrolinien
einerseits eine genügend große Kapazität
(durch die langen Tatrazüge) und andererseits
ein berechenbares (und im Fahrplan
ausgewiesenes) barrierefreies Angebot. Die
typische Nennkapazität einer solchen Linie
in 20 Minuten beträgt: 2×100=200 Personen
im Tatrazug +150 Personen im GT6, zusammen
350 Personen. Das war der Fall auf
den Linien M 5, M 8, M 13, M 17 und 50.
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Fotomontage: Holger Mertens |
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Auf den Linien M 1, M 2 und M 6 fuhren
dagegen nur GT6 alle 10 Minuten, das entspricht
300 Personen in 20 Minuten. Auf der
Linie M 10 fuhren schon damals die GT6 alle
5 Minuten, also mit 600 Personen Kapazität
in 20 Minuten. Auf der Linie M 4 fuhren alle
20 Minuten eine GT6-Doppeltraktion und
zusätzlich 3 Mal in 20 Minuten KT4D-Doppeltraktionen,
das ergibt zusammen 900
Personen Kapazität in 20 Minuten. Weitere
Verdichtungen, bei einigen Linien nur auf
Teilabschnitten, fanden nur in der Hauptverkehrszeit
(HVZ) statt.
Apropos Nennkapazität: Aus Gründen der
Einheitlichkeit werden die gerundeten Zahlen
der BVG benutzt. Ein KT4D fasst demnach
100 Personen, ein GT6 150 Personen, ein kurzer
Flexity (F6) 180 Personen und ein langer
Flexity (F8) 240 Personen. Die Abweichungen
zwischen Ein- und Zweirichtungswagen
liegen nach BVG-Angaben im tolerablen
Bereich und werden daher hier nicht weiter
ausgeführt. Obwohl die absoluten Zahlen
aus Fahrgastsicht kritisiert werden müssen
(Stehplatzdichte 4 Personen/m²), sollen sie
hier als die einzig verfügbaren offiziellen
Daten Verwendung finden. Diese Untersuchung
hat das Verhältnis der angebotenen
Kapazitäten zueinander zum Gegenstand,
welches in den BVG-Zahlen leicht verständlich
zum Ausdruck kommt.
Heute, über 4 Jahre später, sind die Zuwachsprognosen
Realität geworden, und
immer häufiger müssen Fahrgäste an den
Haltestellen zurückbleiben oder sich zu viert
einen einzigen Quadratmeter teilen, weil
das Angebot nicht ausreicht. Auf mehreren
Straßenbahnlinien ist eine Angebotsausweitung
dringend erforderlich.
Taktverdichtungen und längere Züge
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Unter anderem auf den nachfragestarken Linien M 1 und M 13 setzt die BVG seit einiger Zeit nur noch diese Kurzzüge vom Typ GT6 ein. Das ist auf Metrolinien unangebracht. Foto: Holger Mertens |
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Auf der Linie M 1 ist eine Taktverdichtung
erforderlich, weil es hier gerade einmal das
Mindestangebot gibt, das den Titel „Metrotram“
rechtfertigt, und weil diese Linie in
Prenzlauer Berg verkehrt, wo die Einwohnerzahlen
und die Fahrgastzahlen besonders
stark steigen. Deshalb kommt es auf
der M 1 auch außerhalb der HVZ regelmäßig
zu Überfüllungen. Die Verdichtung durch einen
dritten 20-Minuten-Takt zwischen Hackescher
Markt und Pastor-Niemöller-Platz
in Pankow ist seit Jahren überfällig und
würde in der Folge auch auf dem weiter zu
befahrenden nördlichen Außenast für einen
wenigstens angenäherten Metrotakt sorgen
(bisher werden beide Nordabschnitte mit
einem 20-Minuten-Basisfahrplan befahren).
Darum ist für das Zusatzangebot eine Betriebszeit
montags bis freitags durchgehend
von mindestens 6 bis 20 Uhr nötig. Mit einem
7/7/6-Minuten-Takt auf dem zentralen
Linienabschnitt ist auch bei unverändertem
GT6-Einsatz eine Kapazitätssteigerung um
50 Prozent möglich. Einziger Nachteil dieser
Lösung ist die Verschiebung des reinen
10-Minuten-Angebots zur Endstelle Am
Kupfergraben zu einem 12/8-Minuten-Takt.
Auf der Linie M 2 setzt die Kapazität der
stumpfen Endstelle am Alexanderplatz der
Taktdichte Grenzen, so dass hier eine Verlängerung
der Züge der bessere Weg ist. Allerdings
ist der Ersatz der GT6 durch die kurzen
Flexity nur übergangsweise ausreichend.
Nach Lieferung der langen Zweirichtungswagen
müssen diese auch hier zum Einsatz
kommen. Speziell sonntags, wenn nur das
Metrotram-Basisangebot alle 10 Minuten
gefahren wird, ist dieser Typ unentbehrlich.
Neben dem Grundtakt mit langen Zügen
kann die BVG bei den Verdichtern an Werktagen
mit den F6 „kürzer treten“.
Die größte Herausforderung für die erforderliche
Angebotserweiterung stellt die
hochbelastete Linie M 4 dar. Hier werden
schon heute sowohl der kürzeste Takt als
auch die längsten Züge angeboten. Es verbleibt
als einzige Steigerungsmöglichkeit
der vermehrte Einsatz von 55-m-Zügen
(GT6-Doppeltraktion). Diese sollten einen
kompletten 10-Minuten-Takt fahren, und
der überlagernde 10-Minuten-Takt sollte
mit langen Flexitys gefahren werden. Während
des Berufsverkehrs sollten weitere
lange Flexity den zusätzlichen 10-Minuten-Takt
fahren, so dass auf dem stärker belasteten
der beiden Außenabschnitte ein
6/4-Minuten-Takt mit 40-m-Zügen und auf
dem anderen ein 10-Minuten-Takt mit GT6-Doppeltraktionen
angeboten werden kann.
Außerhalb der HVZ sollten die 55-m-Züge
auf dem stärkeren Endstück und die Flexitys
auf dem anderen eingesetzt werden. So
kann ohne Taktverdichtung eine Kapazitätserweiterung
in der HVZ von fast 20 Prozent
auf der Stammstrecke und über 35 Prozent
auf dem Hauptast hinter Prerower Platz erzielt
werden. Im normalen Werktagsverkehr
betragen die Steigerungsraten immer noch
20 Prozent auf allen Abschnitten.
Wenn die großen Flexity für die M 4-HVZ-Verstärker
am Wochenende nicht gebraucht
werden, dann können sie auf der M 1 eingesetzt
werden. Dadurch wird im dort sehr
starken Wochenendverkehr ohne zusätzliches
Personal die gleiche Kapazität wie
mit dem verdichteten Wochentagsfahrplan
erreicht.
Auf der Linie M 5 sollte das schon heute
meist mit langen Flexitys gefahrene Angebot
auf den Stammzügen (plus HVZ-Verstärker
mit GT6 alle 10 Minuten auf dem äußeren
Abschnitt) ausreichen, denn es stellt eine Kapazitätsausweitung
um 37 Prozent (HVZ 20
Prozent) dar. Dasselbe trifft auf die M 8 zu,
wo alle Züge des 10-Minuten-Grundtaktes
als F8 fahren müssen.
Auch auf der Linie M 6 hat die BVG erfreulicherweise
schon das Angebot aufgestockt
und fährt überwiegend mit 55-m-Niederflurzügen,
nachdem sich der Einsatz nur
einzelner GT6 als völlig unzureichend herausstellte.
Da das nur eine Übergangslösung
sein kann, weil die alten Niederflurzüge
nach Abstellung aller Tatrawagen auf dem
Köpenicker Netzteil gebraucht werden, ist
auch hier der lange Flexity das Fahrzeug der
Wahl. Im 10-Minuten-Takt genau wie auf der
M 5 plus 10-Minuten-Verstärker mit GT6 im
Berufsverkehr ergibt sich gegenüber 2009
eine Angebotsausweitung um 60 Prozent
(HVZ 30 Prozent).
Die Erfahrungen mit dem zwischenzeitlichen
Einsatz der GT6-Doppeltraktionen
zeigen aber auch auf der M 6 die dauerhafte
Notwendigkeit dieses Zugtyps. Die notwendige
Mehrbeschaffung von Straßenbahnen
für diese und andere Linien über die jetzt
finanzierten 138 Serienwagen hinaus muss
schon jetzt vorbereitet werden.
Auch die Tangentiallinien legen zu
Auf der Linie M 10 ist bis auf weiteres eine
Verlängerung der Züge noch nicht planbar.
Mittelfristig müssen BVG und Senat auch
für diese Linie lange Flexity einplanen. Besonders
dringlich wird diese Kapazitätsausweitung
mit der verkehrlich schon lange
notwendigen Verlängerung der M 10 von
der Warschauer Straße zum Hermannplatz
in Neukölln. Die perspektivisch durch den
Einsatz von 2× GT6 freiwerdenden langen
Flexity der M 6 können dann hier eingesetzt
werden. Als Ausgleich stehen die auf der
M 10 heute eingesetzten F6 zur Freisetzung
der benötigten GT6 zur Verfügung.
Die Linie 12 hat in den letzten Jahren eine
überdurchschnittliche Fahrgastzunahme
erlebt, so dass eine Verdichtung zumindest
montags bis freitags geboten ist. Eine
Umstellung von 15- auf 10-Minuten-Takt
entspricht einer angemessenen Platzausweitung
um 50 Prozent, auch ohne den
Einsatz größerer Wagen. Wenn die BVG am
Wochenende bei ebenfalls erweiterter Kapazität
Personal sparen will, empfiehlt sich
der Einsatz kurzer Flexitys, die dann auf der
M 2 nicht gebraucht werden.
Die Linie M 13 ist der nächste Kandidat für
eine mittelfristig nötige Flottenerweiterung.
Bei unveränderter Bestellung bleiben
für diese Linie zunächst nur die F6-Wagen
übrig. Damit lässt sich aber kein Wachstum
erzielen, es wird lediglich der Status quo gehalten.
Dasselbe gilt für die Erfolgslinie 50,
die sich mit der M 13 einen langen Abschnitt
teilt und für die ebenfalls kurze Flexitys aus
der jetzt gültigen Bestellung übrigbleiben.
Während die oben beschriebenen Linien
bis auf die Neubaustrecke zum Hauptbahnhof
unverändert bleiben, muss für die
Bedarfsabschätzung der Linie M 17 etwas
weiter ausgeholt werden. Diese Linie ist Teil
der Straßenbahn-Osttangente und bildet
mit den dazugehörenden Linien 27 und
37 einen gemeinsamen Takt. Dabei stellt
die 37 einen reinen Werktagsverstärker der
M 17 dar, und die IGEB hat zur Behebung der
Kapazitätsprobleme im Studentenverkehr
der Hochschule für Technik und Wirtschaft
(HTW) schon in SIGNAL 6/2013 eine Verlegung
der 37 zur neuen Endstelle an der
Wuhlheide gefordert. Damit würde die 37
zu einer adäquaten Verstärkung der ebenfalls
überlasteten Linie 27, die auf absehbare
Zeit mit GT6-Solowagen weiterbetrieben
werden muss. In diesem Szenario muss die
M 17 zwingend mit langen Flexitys bedient
werden, um die weggefallenen Kapazitäten
der Linie 37 zum Bahnhof Schöneweide zu
ersetzen. Auch die Linie 21 bekommt dadurch
auf ihrem Südende einen größeren
Stellenwert zur Entlastung der M 17.
Aktuelle Flexity-Lieferung unzureichend
Die freigesetzten GT6-Wagen werden durch
die oben beschriebenen notwendigen Taktverdichtungen
und zusätzlichen Verdichtungsleistungen
auf der 21 und der 63 alle
über Jahre noch gebraucht und stehen für
die eigentlich nötigen Doppeltraktionen
auf den am stärksten belasteten Radiallinien
nicht zur Verfügung. Darum fordert die
IGEB den BVG-Aufsichtsrat mit dem Finanzsenator
als Vorsitzendem auf, schon jetzt die
Weichen für eine Anschlussbestellung neuer
Straßenbahnen zu stellen. Nur so kann das
bisherige Wachstum der Straßenbahn-Leistung
für Berlin gesichert werden.
Aber auch der Stadtentwicklungssenator
ist aufgerufen, neue Strecken so zu
planen, dass der Einsatz von 60-m-Zügen
als effektiver Methode zur Kostensenkung
auf allen Metrolinien möglich bleibt!
Schließlich ist noch darauf hinzuweisen,
dass zur Freisetzung von GT6 für Doppeltraktionen
auch auf den Außenstrecken
zukünftig vermehrt (kurze) Flexitys fahren
werden. Eine Anpassung der Infrastruktur
besonders im Netz Köpenick ist daher
schon jetzt vorzubereiten. (af) IGEB Stadtverkehr
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